Im Wald
Die Sonne wollte sich heute nicht blicken lassen. Den ganzen Tag schon verhängen dunkle Wolken bedrohlich den Himmel, immer wieder kurze Güsse. Erst jetzt, in der Abenddämmerung, wird das Wetter etwas trockener.
„Jetzt ist er aber endgültig vorbei“, nuschelt Danny kaum verständlich und schaut gedankenversunken aus dem Straßenbahnfenster. Die ganze WG ist hier. Im fast leeren Wagen sitzen sie beieinander, die Köpfe zum Durchgang hin zusammengesteckt. Nur Danny kniet wie ein Kind auf seinem Sitz. Er hat sich zum Fenster gedreht und lehnt mit verschränkten Armen gegen die Scheibe. Sein Gesicht hat er bis auf die Augen in seinen Armen vergraben.
Die Anderen sind in Gespräche vertieft; Saskia, Christine und Martin tuscheln. Sven und Thomas unterhalten sich eher laut und gestikulieren wild mit ihren Armen wie hängengebliebene Teenager. Nur Maria, die hinter Danny sitzt, hat Dannys Nuscheln vernommen. Neugierig versucht sie eine ganze Weile lang zu ergründen, was er meinen könnte. Dann beugt sie sich langsam zu ihm vor. Sie spricht nicht gern laut. „Was ist vorbei?“, fragt sie ihn schließlich.
„Na, der Sommer…“, sagt Danny vor sich hin, ohne sein Gesicht aus seinem Versteck zu holen. Dann beobachtet er wieder stumm die Autos, deren Scheinwerfer und Bremslichter sich in der nassen Fahrbahn spiegeln. Durch die verregnete Scheibe verschwimmt alles zur einem verträumten Lichtspiel. Auf der Straßenseite gegenüber wiegen die Äste der städtischen Bäume in den Böen und lassen gelbe Blätter auf den Gehweg fallen. Es ist nicht nur spürbar kühler geworden, sondern auch windiger. Das ideale Wetter für den Herbst, das ideale Wetter für Halloween.
Eigentlich sind alle von dem Halloweengedöns in der Stadt genervt, von den um Süßigkeit bettelnden Kindern, den albernen Kostümen, dem Kommerzrummel. Trotzdem möchten sie heute etwas unternehmen. Etwas Spaß haben, ihr eigenes Ding machen, auch ein wenig Zeichen setzen. Für den allgemeinen Trott sind die zu kreativ. Die haben sich etwas Anderes ausgedacht: Heute geht es in den Steiger, den Erfurter Stadtwald. Die Rücksäcke vollgestopft mit Süßigkeiten, Snacks, Alkohol und Spiritus. Denn ein Feuer wollen sie auch machen.
Nachdem Danny so wortkarg war, hat sich Maria wieder zurückgelehnt und schaut nun ebenfalls aus dem Fenster. Sie beginnt zu grübeln. Schon seit dem gemeinsamen Mittagessen scheinen die Anderen alle etwas kurz angebunden zu sein. Hat sie etwas Falsches gesagt? Sie weiß ja selbst, dass sie gern mal in ein Fettnäpfchen tritt. Vielleicht liegt es ja aber auch am Wetter, da möchte sie sich am liebsten auf der Couch einkuscheln und chillen.
Die Anderen sind nach wie vor in ihre Gespräche vertieft – oder besser gesagt in das Gespräch. Denn seit die Polizei dem Halloweenmörder auf der Spur ist, gibt es nur kaum ein anderes Thema mehr in der Stadt. Ein vermutlich psychisch Kranker treibt seit Wochen sein Unwesen, meist in öffentlichen Parkanlagen. Er spricht Fremde an und bittet sie um Hilfe. Die Eine hat er nach der Uhrzeit gefragt, den Anderen nach dem Weg zu Bahnhof gefragt. Dann immer dieselbe Masche: Plötzlich wird er handgreiflich und zückt ein Messer. Und dann stellt er sich mit den Worten vor: „Ich bin dein Ende, ich bin dein Tod, ich bin der Halloweenmörder!“ Die inzwischen zahlreichen Opfer konnten immer entkommen und als Zeugen aussagen. Man könnte fast lachen. Doch vor zwei Wochen wurde im Stadtpark eine Leiche gefunden, große Aufregung geisterte durch die Stadt. Der Toten steckte ein Messer in der Brust und an dem Messer ein handgeschriebener Zettel: „Der Halloweenmörder kommt wieder!“ Vielleicht ist es gar nicht so weise, in der Abenddämmerung noch durch den Wald zu wandern. Aber sie sind ja zu siebt, was soll schon passieren…
Endlich ertönt die Haltestellendurchsage. „Wir sind da!“, weckt Saskia Maria und Danny aus ihrer Traumwelt. Etwas müde erheben sich auch die Anderen und trotten zur Tür.
„Igitt, ist das kalt“, sagt Maria, als sie draußen neben der Straßenbahn stehen.
Saskia rückt den Kragen ihrer Jacke zurück und schaut in den Himmel: „Wenn es jetzt wenigstens trocken bleibt…“
„Wäre besser so“, sagt Sven, „wir wollen doch ein Feuer machen.“
Der Tross bewegt sich in Richtung Steiger. Es ist schon gast dunkel. Und Maria ist etwas erleichtert, denn das miese Wetter ist allemal ein besseres Thema als der Halloweenmörder.
Es geht stramm bergauf. Gerade die Raucher keuchen lustige Melodien. Und schon säumen die erstem Bäume des Stadtwalds den einsamen Teerweg, dessen Schlaglöcher nur noch durch Asphaltfetzen zusammengehalten werden. Der Steigerwald ist vor längst vergangener Zeit einmal als Naherholungsgebiet und Ausflugsziel gepflanzt worden, aber immerhin groß genug, dass er forstwirtschaftlich betreut wird. Wie ein grüner Saum am Stadtrand liegend, wird er abends normalerweise nicht mehr von Spaziergängern und Ausflüglern heimgesucht.
Inzwischen hat die Gruppe den Wegverlassen und folgt einem Trampelpfad im Unterholz.
„Wo müssen wir eigentlich hin?“, fragt Danny plötzlich.
„Wo sind wir überhaupt?“, fragt Sven zurück. Er holt sein Handy aus der Tasche und wedelt demonstrativ damit in der Waldluft herum. „Kein Empfang!“, ruft er schließlich.
Auch Danny hält sein Handy in der Hand. „Hier auch nix!“ sagt er.
Inzwischen ist die ganze Gruppe stehen geblieben. Alle luken auf ihre Handys und berichten, dass sie keinen Empfang hätten. Ungläubig wischt auch Maria auf ihrem Display herum und macht schließlich ein überraschtes Gesicht.
„Ich weiß nicht, was Ihr verkehrt macht“, ruft sie schließlich, „aber ich habe hier alle Balken!“
„Das ist bestimmt dein lieber Gott“, lacht Danny, „der hält seine Schäfchen halt zusammen.“
„Parole Maulhalten!“, ruft Christine. Ach ja, In dieser Frage sind sie ja zu zweit.
„Dann bleib am besten dort, wo du bist, und versuch rauszufinden, wo wir hier sind“, sagt Saskia ruhig, „Wie gehen mal ein paar Schritte und schauen uns die Umgebung an.“
Dann laufen sie alle weg. Nur Maria bleibt im dunklen Wald zurück und fingert auf ihrem Touchscreen herum. Dass sie die Einzige mit Handyempfang sein soll, kommt er seltsam vor. „Ich hab’s!“, ruft sie schließlich, ohne ihre Augen vom Display zu heben. Sie verfeinert ihre Suche noch einmal und ruft dann: „Leute, ich weiß jetzt, wo wir sind!“ Dann lässt sie ihr Handy absinken und wirft einen Blick in die Umgebung. Ihre Augen müssen sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Erst jetzt wird ihr bewusst, dass sie ganz allein mitten im dunklen Wald steht. Da wird er ganz anders. „Hallo?!“, ruft sie noch einmal, „Wo steckt Ihr denn alle?“ Allmählich tastet sie sich vorwärts. Eine Orientierung hat sie jedoch nicht. Sie kann weder die Straße sehen noch ihre Freunde. Jetzt tastet sie sich vorsichtig in die andere Richtung vorwärts. „Wo seid Ihr denn?!“, ruft sie noch einmal, jetzt schon etwas panisch.
„So ein bisschen gemein ist das schon“, flüstert Sven. Die Meute ist ein paar Dutzend Meter weiter hinter einem Erdwall in Deckung gegangen und beobachtet Maria.
„Irgendjemand musste ja heute das Opfer spielen“, flüstert Saskia zurück, „wir haben ausgelost.“
„Das ist ja sogar für mein Dafürhalten echt heftig“, flüstert nun auch Danny.
„Ein paar Minuten noch“, mischt sich Christine ein, „dann erlösen wir sie doch wieder.“
Heute Mittag haben die WG-Bewohner einen diabolischen Plan ausgeheckt. Sie wollten Maria austricksen, indem sie behaupten, ihre Handys hätten keine Internetverbindung. In ihrer Hilfsbereitschaft würde Maria sicher ihr eigenes Handy einsetzen. In der Zwischenzeit würden sie sich heimlich von ihr entfernen und sie dann irgendwann erschrecken.
„Bisher läuft auf jeden Fall alles perfekt nach Plan“, flüstert Saskia. Dann piekst sie Danny, der neben ihr auf der Lauer liegt, mit dem Ellbogen in die Seite: „Raschel mal, damit Maria auf uns aufmerksam wird!“ Danny raschelt mit der Jacke.
Maria hat nichts gehört. Mit Storchenschritten tastet sie sich noch immer durch Dickicht. Zwischendurch hält sie immer wieder inne in der Hoffnung, ihre Mitbewohner aufzuspüren. Doch was ist das? Ein Knacksen schallt durch den Wald, als ob jemand einen Zweig zerbricht. Sie kann die Herkunft zweifelsfrei orten. Dann noch ein Knacksen. Jetzt steuert sie hoffnungsvoll auf den Erdwall zu, hinter dem sie ihre Freunde vermutet. Sie ist nicht nur verängstigt, sondern auch sauer. Sie findet dieses Spielchen gar nicht angemessen. Haben die Anderen denn gar nicht darüber nachgedacht, dass dieser Mörder noch frei herumläuft? Endlich ist sie am Erdwall angekommen, jetzt kann sie auch die Klamotten der Anderen erkennen, die recht farbenfroh sind und sich außerdem verräterisch bewegen.
Plötzlich schießt die gesamte Meute in die Höhe und stürmt laut schreiend auf Maria zu. Sie erschrickt fürchterlich. Sie hat ihre Mitbewohner zwar erkannt, aber nicht mit dieser Reaktion gerechnet.
„Ihr Schweine!“, schreit sie schließlich, „Ich hasse Euch!“ Sie heult fast vor Wut.
Aber Saskia hat Maria schon in ihre Arme genommen. „Jetzt lach doch mal!“, fordert sie sie auf.
„Lachen?!“, fragt Maria entrüstet, „Da kann ich gar nicht lachen!“
„Freust du dich denn gar nicht, uns wieder zu sehen?“, fragt Martin. Er hat ein schlechtes Gewissen.
„Ja, bin echt erleichtert“, gibt Maria etwas gefasster zu, „aber wenn ihr keine Knacksgeräusche gemacht hättet, hätte ich Euch nicht gefunden.“
„Welche Knacksgeräusche?“, will Saskia wissen.
Martin und Saskia starren sich an. „Wir haben nicht geknackst“, sagt Martin schließlich zu Maria. Und Christine ergänzt mit ernster Miene: „Ich hab nicht mal ein Knacksen gehört!“
Maria grinst: „So wie ich Danny kenne, hat er bestimmt was damit zu tun.“
Saskia schaut sich um. Sie würde gern beteuern, dass wirklich niemand ein knackendes Geräusch gemacht hat, aber ihr fällt gerade etwas Anderes auf. „Hat jemand Danny gesehen?“
Danny ist wie vom Erdboden verschluckt. Auch Thomas und Sven sind verschwunden.
„Danny?!“, ruft Saskia, doch keine Reaktion vom Bunthaarigen.
„Und die Anderen“, fragt Maria.
Martin, Christine, Saskia und Maria stehen im Kreis mitten im dunklen Wald. Ihnen wird klar, dass Danny, Sven und Thomas tatsächlich nicht mehr hier sind.
„Scheißspiel!“, schimpft Maria.
„Dann lasst uns doch einfach die Feuerstelle suchen“, schlägt Christine vor, „die Kerle werden schon kommen, wenn sich hungrig sind.“
„Genau“, merkt Saskia an, „wir haben die Rucksäcke mit dem Proviant.“
Sie lachen kurz. Dann machen sie sich aber auf den Weg. Maria navigiert. Es sind nur ein paar Fußminuten bis zum Grillplatz.
„Ach ja, Kerle…“, seufzt Christine noch einmal.
„Ach, was“, kontert Saskia, „wir sind doch auch nicht besser.“
„Das kannste laut sagen!“, lacht Maria, „Das kannste laut sagen.“
Plötzlich springt ein Kerl wie ein Schrank aus dem Gebüsch und schreit: „Halloweenmörder!“
Maria kreischt, Martin zuckt zusammen. Der kräftige Bursche steht vor ihnen – immer noch in Angriffspose wie ein Grizzly. Es ist Sven.
„Auch, du Arschloch!“, zischt Saskia, halb wütend und halb lachend, und schlägt ihm mit der flachen Hand auf die Brust. Er lacht. „Und wo hast du die beiden anderen Jungs gelassen?“, will Saskia nun wissen.
Sven schaut sich um. „Die haben sich hier auch irgendwo versteckt, denke ich“, sagt er. Er weiß nicht, wo Thomas und Danny stecken und wird allmählich wieder ernster.
„Danny! Thomas!“, ruft Maria mit ihrer zarten Stimme.
„Jungs!“, schreit nun Saskia laut, „kommt raus, es reicht jetzt!“
Stille.
„Thomas!“, ruft Saskia noch einmal.
„Danny!“, schreit nun auch Martin, „Wir wollen essen!“
Keine Reaktion. Martin, Christine, Saskia, Maria und Sven brechen also auf und stapfen nun allein zum Grillplatz. Außerdem gibt es in der Lichtung noch einen Kinderspielplatz. Auf jeden Fall ist es hier sehr gemütlich – aber eben auch etwas gespenstig. Sie richten sich ein und legen die Rucksäcke ab, erste Bierflaschen werden geköpft. Sven und Martin versuchen, ein Feuer zu entfachen, aber die Feuerstelle ist sehr nass. Aber von Danny und Thomas keine Spur.
„Was treiben die Beiden denn!“, fragt Maria. Sie ist jetzt doch ein wenig aufgebracht.
„Nicht, dass den Beiden doch was passiert ist…“, wirft Christine ein.
„Was soll denen denn passiert sein?“, fragt Sven ungläubig.
„Kann man doch nie wissen.“, gibt Martin hinzu.
„Und dann ist da noch dieser Irre“, sagt Saskia nachdenklich, „der die Leute absticht.“
„Bis jetzt gab es doch nur einen Toten“, versucht Sven, die Anderen zu beruhigen.
„Eine Tote!“, korrigiert Saskia, „Und außerdem: Wer sagt denn, dass der Kerl heute Abend nicht ausgerechnet hier ein Unwesen treibt?“
Maria zuckt zusammen: „Habt Ihr vorhin wirklich keine Geräusche gemacht?“
„Danny sollte mit der Jacke rascheln“, berichtet Saskia, „damit du auf uns aufmerksam wirst.“
„Und das Knacken?“, fragt Maria.
„Das waren wir wirklich nicht“, mischt sich Christine ein und schaut ernst.
Saskia nickt andächtig zustimmend. Maria schreit innerlich. Das sieht man ihren Augen an. Sie bekommt Gänsehaut am ganzen Körper.
„Ein Feuer ist eh nicht hinzukriegen“, sagt Sven, „sollen wir die Beiden vielleicht einfach suchen gehen?“
„Mir wäre es echt lieber“, antwortet Christine ängstlich, und auch Saskia ist jetzt verunsichert: „Mir auch.“
„Angsthasen!“, lacht Sven, wird dann aber wieder ernst: „Dann sollten wir uns am besten aufteilen und in Gruppen losgehen.“
Saskia nickt zustimmend. Dann schaut sie fragend zu Maria.
„Wir gehen zusammen!“, sagt Maria und zeigt auf Saskia.
„Ich komme mit!“, sagt Sven kurzentschlossen.
„Na, dann gehe ich mit Martin“, sagt Christine und stellt sich demonstrativ neben ihn.
„Also – Handys haben wir ja alle dabei“, erinnert Martin.
Betretene Stille. Dann schnappt jeder kurzerhand nach seinem Gepäck. Sekunden darauf sind sie alle von der Lichtung im dunklen Walt verschwunden.
„Scheiße, tut das weh“, zischt Thomas. Auf der Suche nach einem originellen Versteck vor den Anderen ist er in einen kleinen Schacht aus Beton gekrochen, dann aber mehrere Meter in die Tiefe gestürzt.
„Bist du verletzt?“, fragt Danny. Dass Thomas‘ Stimme sehr verhallt klingt, verunsichert ihn.
„Mein Fuß tut saumäßig weh!“, antwortet Thomas.
Danny leuchtet mit seinem Handy in den Schacht. Verdammt, da geht es mindestens fünf Meter weit runter. Allerdings gibt es Trittstufen. Kurzerhand steigt er über die Betonwangen und steigt hinein. Er tastet sich vorsichtig von Stufe zu Stufe. Im Schacht ist es eng, und die eisernen Tritte sind stark verrostet. Danny muss sehr vorsichtig sein, um nicht selbst abzustürzen. Noch eine Stufe, dann noch eine. Plötzlich, zack! Er hat die unterste Stufe aus der Armierung gebrochen, die nun in den Schacht fällt. Jetzt hängt er mit beiden Händen am vorletzten Tritt.
„Du bist fast unten“, beruhigt ihn Thomas, „spring einfach ab!“
Einige Augenblicke lang zögert Danny. Dann beschließt er, Thomas zu vertrauen, und lässt sich fallen. Kurz darauf spürt er wieder festen Boden unter den Stiefeln. Er schaltet sein Handylicht wieder ein und stellt fest, dass er auf einem Schutthaufen steht. Ihm fällt auch auf, dass es hier unten deutlich kälter ist als draußen. Und ein ständiger Luftstrom zieht durch.
Ein paar Meter weiter kauert Thomas. Er schaut zu Danny und hält sich den Fuß.
Danny steigt vom Schutthaufen und schaut sich um. Über ihm eine Kuppel mit einem Wetterschacht, der nun ohne Hilfsmittel nicht mehr zu erreichen ist, ringsum Gänge. Lange, düstere, gruselige Gänge. Dann fällt sein Blick wieder auf seinen Freund. „Kannst du laufen?“, fragt er Thomas.
„Wird schon gehen“, sagt Thomas. Es ist erleichtert, dass er nicht allein hier unten versauern muss. Über seine Sorge, dass sie hier möglicherweise nicht wieder rauskommen werden, spricht er nicht. Stattdessen rappelt er sich auf. Sein Gesicht ist schmerzverzerrt. Danny hakt ihn unter und stützt ihn.
Sie vereinbaren, nur abwechselnd ihre Handys als Taschenlampen zu nutzen, um Akkuzeit zu sparen. Empfang gibt es hier unten nicht. Im fahlen Handylicht ist nicht viel zu erkennen. Die Katakomben sind lang und verschlungen, die Luft hier unten ist feucht und neblig, so dass die beiden nicht weit sehen können. Zuerst irren sie planlos umher, doch dann versuchen sie, möglichst gezielt vorzugehen. Doch nach einigen Minuten sind sie wieder unter ihrem Wetterschacht angekommen.
„Mist“, flucht Danny, „wir sind im Kreis gelaufen.“ Sie kuzen sich nieder, um sich kurz auszuruhen. „Was macht dein Bein?“, erkundigt sich Danny.
„Ist schon besser geworden“, sagt Thomas, „scheint also nix Schlimmes zu sein.“
„Wie konntest du denn einfach in so einen Schacht klettern?“, fragt Danny.
„Dachte halt, ‚Cooles Versteck, hier kletterste jetzt rein‘“, erklärt Thomas, „hab mir keinen Kopf gemacht.“
„Und wenn ich nicht zufällig in der Nähe gewesen wäre?“, versucht Danny Thomas für die gefährliche Situation zu sensibilisieren.
„Glaub mir“, sagt Thomas, „dann hätte ich das nicht gemacht!“
„Ach so“, erwidert Danny, „dann bin ich quasi dein Freibrief für alles, oder wie?“
„Schimpf doch jetzt nicht mit mir“, sagt Thomas resigniert, „ich hab’s ja schon eingesehen.“
„Schimpf nicht mit mir“, wiederholt Danny, „bin ich dein Vater?“ Er lacht. Dann rubbelt er Thomas über den Kopf: „Los, komm, wir müssen weiter.“
Dann humpeln sie davon. „Mein Vater hat nie an mich geglaubt und war auch nie so wirklich für mich da“, beginnt Thomas nach einer Weile, „aber bei dir fühle ich mich ernstgenommen.“
„Ach“, wiegelt Danny ab, „ich bin doch auch nur ein ganz normales Arschloch.“
Thomas verstummt. „Mann, Mann, Mann“, sagt er schließlich, „du gehst aber hat mit dir ins Gericht.“ Er bleibt stehen, auch Danny muss nun anhalten. „Du hast eine ziemlich derbe Art manchmal“, sagt Thomas jetzt, „aber genau das gefällt mir so an dir. Und wenn du jemanden nicht magst, dann zeigst du ihm das klipp und klar. Man weiß, woran man bei dir ist, auf dich kann man sich verlassen. Du hast einen astreinen Charakter.“
Danny hat Thomas noch immer untergehakt, Thomas hat seinen Arm um Dannys Hals gelegt, um sich stützen. „Geht es wieder?“, fragt Danny.
Thomas nickt, dann humpeln sie wieder weiter. „Ehrlich gesagt, wäre ich gern wie du“, sagt Thomas, „ich finde dich halt extrem cool.“
Danny fühlt sich geehrt, ist aber trotzdem peinlich berührt. „Komm schon“, sagt er nach einem kurzen Moment des Schweigens, „ich mag’s nicht, wenn du mich so vergötterst.“ Jetzt fällt Danny wieder auf, dass Thomas noch nicht ganz ausgereift ist und noch sehr auf der Suche ist. Auf der Suche nach Wertvorstellungen, einem Weltbild, Idolen und nach sich selbst.
„Kannst du mich nicht an die Hand nehmen?“, fragt Thomas.
„Ich hab dich doch schon an der Schulter!“, lacht Danny.
„Du weißt schon, was ich meine“, sagt Thomas, „pass auf mich auf, sein mein großer Bruder!“
Danny muss schlucken. Dass geht ihm jetzt etwas nahe. Er überspielt es mit einem lauten Lachen. „Du bist ja echt niedlich“, sagt er schließlich.
„Soll ich aufhören zu reden?“, fragt Thomas.
„Ach, was“, sagt Danny, „Quatsch!“
Sie kommen an eine Wegkreuzung. Danny leuchtet mit dem Handy in alle Richtungen. Keinerlei Orientierungsmöglichkeiten, nur Fels und Mauerwerk überall. Sie biegen nach rechts ein.
„Ist schon ok“, sagt Danny noch einmal, „aber was erwartest du denn von mir?“
„Habt Ihr das Knacken gehört“, fragt Maria verunsichert. Ihre Gruppe irrt nun schon eine ganze Weile im Wald umher, von Danny und Thomas fehlt ihnen jede Spur.
Sven nickt. „Das habe ich schon ein paarmal gehört“, sagt er, „das wird wohl die andere Gruppe sein.“
Saskia nickt zustimmend, auch Maria möchte das zu gern glauben. Dann ziehen sie weiter. Sie bemühen sich, auch weiterhin möglichst leise zu sein.
Auch die andere Gruppe sucht bislang erfolglos, auch Martin und Christine bewegen sich sehr leise vorwärts.
„Hast du das Knacken vorhin gehört?“, fragt Christine Martin.
Doch Martin ist die ganze Zeit abwesend und hat nicht auf Geräusche in der Umgebung geachtet. Seine Gedanken kreisen um Thomas und Danny und um den gesuchten Straftäter. „Nee, hab nichts gehört“, sagt er schließlich, „aber vielleicht ist es ja von der anderen Gruppe gekommen.“
Christine schaut sich flüchtig um. Die Anderen sind weder zu sehen noch zu hören.
Am Betonschacht über dem Bunker angekommen, machen sie kurz Rast. Für einen kurzen Augenblick hatte Martin das Gefühl, von unten her Geräusche zu hören. „Hallo?“, ruft er intuitiv hinein und ist über den Hall verwundert. Eine Weile noch starren Martin und Christine sich an. Aber sie hören nichts und ziehen schließlich wieder von dannen.
Thomas bleibt wieder stehen. „Ich brauche eine kurze Pause“, sagt er, „mein Fuß…“
Sie kuzen sich wieder hin und hocken sich im düsteren Gang des Bunkers nun gegenüber.
„Mit diesen Ballerinas geht man doch auch nicht auf eine Steigerwanderung“, grinst Danny und zeigt vorwurfsvoll auf Thomas abgelatschte Sneaker, „kein Profil mehr, kein Halt, keine Stützung…“
„Kann ja nicht jeder solche orthopädischen Schuhe tragen wie du“, stänkert Thomas zurück.
„Wer von uns beiden hat denn den demolierten Knöchel?“, fragt Danny, „Finde er den Fehler!“
„Stimmt schon“, gibt Thomas klein bei, irgendwie hast du schon Recht.“ Er streckt vorsichtig sein noch heiles Bein aus und schiebt den Fuß zu Dannys ausgetrecktem Bein, so dass sie nun Sohle an Sohle sitzen. Danny betrachtet die Szenerie neugierig. „Am liebsten hätte ich jetzt deine Stiefel“, sagt Thomas, obwohl er sieht, dass die beiden fast ein halbes Dutzend Schuhgrößen voneinander trennt. Danny ist auch ein ganzes Stück größer als Thomas.
„Wegen deiner Verletzung?“, fragt Danny ernst.
„Ja“, antwortet Thomas, „und weil du so cool aussiehst mit seinen Stiefeln.“
Jetzt muss Danny doch wieder lachen. Er muss Thomas‘ Worte erst ein wenig verdauen. „Bleib du mal bei deinem Stil“, sagt er schließlich, „du bist schon ganz cool so, wie du bist.“ Dann zieht er sein Bein ein und steht auf: „Du musst niemanden kopieren, um cool zu sein“, sagt Danny schließlich, „bleib einfach du selbst.“ Mit diesen Worten zieht er auch Thomas hoch und hakt ihn wieder unter. Und wieder humpeln sie davon.
Bald darauf stehen sie an einer Gabelung.
„Schon wieder ein Scheideweg“, stellt Danny fest.
„Genau wie in meinem Leben“, kontert Thomas.
„Das Leben besteht nur aus Entscheidungen“, lacht Danny, „also, im Zweifelsfall links!“
Inzwischen ist es stockdunkel draußen. Die beiden Suchtrupps haben nach und nach unabhängig voneinander Geräusche aus dem Schacht vernommen und sich nun alle Mann um ihn versammelt.
„Habt Ihr das auch gehört vorhin?“, fragt Saskia in die Runde.
„Was denn?“, fragt Martin ungläubig.
„Hat denn niemand die Stimmen da unten gehört?“, fragt Saskia wieder.
Betretene Gesichter.
„Du meinst, sie sind da unten?“, vergewissert sich Sven, „Warum sollten die ausgerechnet in diesen Schacht geklettert sein?“
„Und wenn schon“, sagt Maria, „inzwischen können sie schon längst woanders sein.“
„Ist jemand da drin?“, ruft Saskia in den Schacht.
Keine Reaktion.
„Na gut“, gibt sie schließlich nach, „dann lasst uns woanders weitersuchen.“
Etwas resigniert trennen sich die beiden Gruppen wieder auf und verstreuen sich in der Dunkelheit. Doch wenige Minuten später stehen beiden Gruppen wieder versammelt am Schacht. Sie wissen nicht weiter.
„Nur noch fünfzig Prozent und absolut kein Empfang“, warnt Danny bei einem flüchtigen Blick auf sein Handy, „wir sollten hier langsam raus finden!“
Thomas zieht sein Handy aus der Hosentasche. „Dann lass mich doch zur Abwechslung etwas leuchten!“ Er schaltet sein Licht ein, Danny schaltet seins aus. Dann hakt Danny Thomas wieder unter, und sie humpeln weiter.
Wieder kommen sie an eine Kreuzung. „Langsam drehe ich durch“, sagt Danny genervt, diesmal gehen wir einfach geradeaus!“
„Schau doch mal“, stoppt Thomas die gemeinsamen Schritte wieder, „hier sind Fußspuren!“ Er leuchtet den Boden aus. „Die müssen doch frisch sein“, sagt er dann, „die sind doch nass!“
Thomas und Danny bewundern jetzt die Abdrücke. Danny bückt sich und fühlt mit dem Finger. Er erhebt sich wieder und zerreibt die Nässe zwischen Daumen und Zeigefinger. „Ist tatsächlich ganz frisch“, sagt er schließlich, und die beiden beschleicht ein ungutes Gefühl. Sollte außer den Beiden noch jemand hier unten sein?
Danny ist wie gelähmt. Er setzt seinen Fuß auf den Abdruck. Sein Stiefel ist ein Stück größer. Dann tritt auch Thomas auf den Abdruck. Sein Schuh ist zu klein.
„Vielleicht der Mörder?“, flüstert Thomas plötzlich.
Danny zuckt mit den Schultern. „Die Feuchtigkeit ist schon zerlaufen“, flüstert er zurück, „vielleicht sind die Spuren ja doch von uns selbst.“
„Aber wir waren doch noch gar nicht hier!“, wirft Thomas ein.
„Vielleicht doch?“, fragt Danny verunsichert.
Eine Weile starren sich die Beiden noch an, zwischendurch aber auch immer wieder auf die Abdrücke, die zusehends trocknen und dabei ihre Große und ihr Form verändern.
„Lass uns einfach so schnell wie möglich hier abhauen!“, flüstert Danny aufgeregt. Sein Herz schlägt bis zum Hals.
Sie gehen also geradeaus.
„Verfluchte Scheiße!“ flüstert Danny wütend, als sie eine Kuppel betreten. Sein Blick geht nach oben. Durch einen Wetterschacht ist der Himmel zu sehen. Dann wandern seine Augen nach unten. Unter dem Schacht ist ein Schutthaufen zu erkennen. Und auf dem Schutthaufen eine herausgebrochene Trittstufe aus verrostetem Eisen.
Auch Thomas schlägt sich gegen die Stirn und lässt sich an der Wand resigniert zu Boden gleiten.
„Scheiße!“, schreit Danny jetzt laut. Langsam wird ihm alles egal. Soll der Mörder doch kommen! Bei Dannys Stimmung wäre der Mörder mehr in Gefahr als das von Danny und Thomas. Danny muss selbst über seinen Gedankengang lachen.
„Warum lachst du?“, will Thomas wissen.
Da ruft eine weibliche Stimme von oben: „Seid Ihr das da unten?“
„Ja, wir sind hier“ ruft Thomas erleichtert, „aber wir schaffen es nicht mehr durch den Schacht nach oben!“ Seine Erleichterung verfliegt jedoch schnell wieder, als er daran denkt, dass sie dem Halloweenmörder hier unten immer noch wehrlos ausgesetzt wären.
„Hallo?“, vergewissert sich nun eine zartere Stimme, „Seid Ihr noch da?“ Es ist Maria.
„Nee, wir sind gerade einkaufen gegangen“, ruft Danny nach oben, „holt uns hier raus!“
„Seid Ihr in Ordnung?“, fragt Maria besorgt.
„Ja, schon“, ruft Danny in den Schacht, „aber Thomas hat was abbekommen und humpelt.“
„Ach, du Schreck!“, ruft Maria aufgebracht zurück, „Ist er schwer verletzt?“
„Nee“, antwortet Danny, „wahrscheinlich nur eine Verstauchung“. Er schaut zu Thomas: „Aber wirklich laufen kannst du heute nicht mehr, oder?“
Thomas schüttelt den Kopf.
„Vielleicht ruft Ihr ja Ben an“, ruft Danny daraufhin wieder durch den Schacht nach oben, „der könnte Thomas mit dem Auto nach Hause bringen.“
„Gute Idee!“, ruft Maria zurück, „Das machen wir!“ Sie wischt aufgeregt auf ihrem Handy herum und recherchiert. Auch von den Anderen ist nichts zu hören.
„Seid Ihr noch da?“, fragt Danny.
„Ja. Ich habe gerade eine Karte von Eurem Bunker im Internet gefunden“, flötet Maria, jetzt schon besonnener, „es gibt einen Ausgang! Und Ihr müsst nicht mal klettern.“ Kurz darauf meldet sie sich wieder: „Macht mal Bluetooth an!“
„Maria ist ein Engel“, sagt Thomas, als sie einen neuen Versuch starten. Maria hat es wirklich geschafft, einen Lageplan des Bunkers zu finden und ihn Danny und Thomas per Bluetooth nach unten zu senden. Jetzt sind sie wieder auf die selbst gestellt.
Zum Glück besitzt Dannys Handy einen brauchbaren Kompass. So schaffen es Thomas und Danny, sich den korrekten Weg durch die Katakomben zu bahnen.
„Worüber musstest du vorhin lachen?“, wiederholt Thomas hartnäckig seine Frage.
„Ach, nur Kopfkino“, sagt Danny, „ich war so geladen, wenn der Mörder vor mir gestanden hätte, dann hätte ich ihn mit bloßen Händen abgeschlachtet!“ Er muss wieder lachen.
„Das ist mein Danny“, sagt Thomas beeindruckt, „in deiner Gegenwart fühlt man sich irgendwie immer sicher.“
„Aber Vorsicht“, begegnet Danny, „manchmal ist es aber auch einfach nur Galgenhumor.“
Plötzlich nimmt die Temperatur des Luftzugs deutlich zu, ein Rauschen ist zu vernehmen.
„Psst“, macht Thomas und schaltet das Licht ab. Sie stehen in einem breiten Gang, am Ende ist ein lauer Lichtschein zu erkennen. Das Rauschen kommt ebenfalls von draußen.
Plötzlich tut es im dunklen Tunnel hinter Danny und Thomas ein Schabgeräusch, als würde jemand beim Laufen schlürfen.
„Los“, schreit Danny panisch, „raus!“
Dann rennen beide wie angestochen los. Sekunden später laufen sie ins Freie. Sie laufen fluchtartig und drehen sich nicht um. Erst an dem beleuchteten Teerweg mit den vielen Schlaglöchern kommen sie zum Stehen. Danny dreht sich um. Außer Thomas ist niemand zu sehen.
„Du hast das Schlürfen schon auch gehört, oder?“, will Danny wissen. Erst jetzt fällt ihm auf, dass sie im strömenden Regen stehen.
„Aber, hallo!“, erwidert Thomas und schüttelt seinen schmerzenden Fuß etwas zur Lockerung.
„Aber, hey“, sagt Danny wieder, „es ist vorbei!“ Er umarmt Thomas.
„Danke“, sagt Thomas, „ohne dich wäre ich verzweifelt.“
„Oder tot“, scherzt Danny, „ist schon gut. Hab fast eingeschissen, aber mit dir hat mir das durchaus auch Spaß gemacht.“
„Ob der Mörder sich wirklich hier irgendwo versteckt?“, fragt Thomas.
„Ach, Quatsch“, sagt Danny großmäulig.
„Da seid Ihr ja“, ruft Saskia von Weitem aus dem Waldrand. Sie strömt mit den Anderen jetzt zu Danny und Thomas zu.
„Schön, dass es geklappt hat“, freut sich Maria, als die WG auf dem Teerweg zusammentrifft.
„Ben müsste auch jeden Moment da sein“, sagt Maria, „wir haben ihn vorhin gleich angerufen.“
In diesem Moment kommt Ben mit seinem 1974er Käfer auch schon die steile Kurve hochgefahren. „Ganz prima“, schimpft er und schlägt die Türe zu, „als Retter in der Not bin ich Euch gut genug, aber zu Eurem Ausflug wolltet Ihr mich wohl nicht einladen?!“ Dann grinst er verlegen. Man weiß nie so recht, ob er wirklich sauer ist, oder ob er sich nur einen Spaß daraus macht. Sein Grinsen straft ihn Lügen – oder aber auch nicht.
„Wusste doch nicht, dass du auf sowas stehst“, entschuldigt sich Ben, „aber klaro – das nächste Mal biste dabei!“
„Außerdem wärst du dann mit uns mit der Straßenbahn hergekommen“, erklärt Maria, „und wir hätten jetzt kein Auto hier.“
„Wie auch immer“, sagt Ben, wo isn nu der Schwerverletzte?“ Sein Blick wandert durch die Runde und bleibt schließlich bei Thomas hängen. Ben erinnert sich wieder, dass Maria im Telefonat seinen Namen genannt hat. „Und du willst nicht lieber ins Krankenhaus?“, fragt er, als er Thomas unterhakt.
„Nee“, wiegelt Thomas ab, „mit etwas Eis ist das morgen bestimmt wieder in Ordnung.“
Ben hilft Thomas ins Auto und dreht sich noch einmal zur Clique zurück: „Will sonst noch jemand mit?“
„Kommt Danny mit?“, fragt Thomas unbeholfen.
Danny hat es gehört. „Was, wieso ich?“, fragt er.
„Ja“, ruft Thomas vom Auto aus, „Einer muss doch auf mich aufpassen.“
„Meinetwegen“, sagt Danny nach einer kurzen Bedenkpause, „warum nicht…“ Dann steigt er zu Thomas ein.
„Noch jemand“, fragt Ben noch einmal, „wenn ich schon mal hier bin?“
Maria und Christine haben sich kurzgeschlossen und entschieden, dass sie für heute genug haben. Außerdem beginnt es gerade wieder zu regnen. „Nimmst du uns beide noch mit?“, fragt Christine.
„Klar“, sagt Ben kurz und knapp. Er wartet an der Tür.
„Viel Spaß Euch drei“, ruft Maria vom Auto zurück. Dann steigen Christine und Maria ein.
Sven winkt kurz, dann ist der Käfer schon wieder verschwunden. Der Regen wird stärker.
„Mist!“, schimpft Martin, „Jetzt schifft es schon wieder!“
„Trotzdem!“, erwidert Saskia tollkühn und starrt noch immer dem Auto nach, obwohl es schon längst nicht mehr zu sehen ist, „Diese Weicheier!“ Dann schaut sie Martin und Sven an: „Dass Thomas heim will, verstehe ich ja noch, aber die Anderen?“
„Ist doch egal“, sagt Sven in seiner arschruhigen Art, „wir können doch auch zu dritt noch ein Feuer machen.“
„Jetzt im strömenden Regen?“, fragt Saskia ungläubig und muss unwillkürlich lachen, „du bist ja echt hart im Nehmen!“
„Oder wir fahren in die Stadt und gönnen uns einen heißen Kakao im Café“, schlägt Martin vor.
„Oder einen heißen Kaffee im Kakao“, albert Sven trocken.
Saskia lacht. Aber nicht unbedingt über Svens Kalauer. „Dannys Humor scheint ja schon ganz schön auf dich abgefärbt zu sein“, sagt sie.
„Ich unterbreche ja nur ungern“, wischt Martin auf seinem Handy herum, „aber wenn wir die Bahn in die Stadt noch kriegen wollen, sollten wir uns beeilen.“
Sie hechten los.
„Wenigstens kehren wir drei noch schön gemütlich ein“, sagt Saskia, als die Drei etwas abgehetzt die in die Straßenbahn einsteigen. Und ordentlich nass geworden sind sie auch. Einen Schirm haben sie nicht dabei. „Sollen die mal daheim rumsitzen“, fährt sie fort, „wir machen uns einen Bunten!“ Da ruckelt die Bahn auch schon an.
Als sie im Stadtzentrum aus der Straßenbahn steigen, hat der Regen deutlich nachgelassen. Trotzdem ist es ein ekliges Wetter geworden. Saskia, Martin und Sven freuen sich schon auf den wohlverdienten heißen Kakao. Mit schnellen Schritten steuern sie auf ihr Stammcafé zu. Die Scheiben sind beschlagen. Sven zieht die Türe auf und macht eine Dienergeste: „Hereinspaziert!“ Saskia und Martin treten ein, Sven folgt ihnen. Als er die Tür hinter sich ins Schloss zieht, bleiben alle Drei wie versteinert stehen. Hinten vorm Tresen sitzen Ben, Danny, Maria und Christine und schlürfen genüsslich Bier. Auch Thomas sitzt vor einem Kakao mit am Tisch, sein Bein auf einem Stuhl gelagert. Claudia, die mit Ben befreundet ist hier gelegentlich mit ihm kellnert, legt gerade einen Beutel Eis auf seinen Knöchel. Thomas scheint sich wohlzufühlen.
„Jetzt schaut Euch doch diese Schlawiner an!“ lacht Saskia, als die Nachzügler einen zusätzlichen Tisch anstellen und sich hinzusetzen. „Von wegen heimgefahren!“
„Seid mal kurz leise!“, fordert Claudia Saskia, Sven und Martin auf, als sie bestellen wollen, und dreht das Radio etwas lauter, „Den ganzen Tag bringen die das jetzt schon.“ Alle lauschen gebannt den Nachrichten: „Bla bla endlich gefunden worden, hieß es aus sicherer Quelle. Nach Angaben der Polizei sei der Tatverdächtige in einem stillgelegten Bunker im Erfurter Steigerwald verhaftet worden. Er habe dort gerade auf der Lauer nach neuen Opfern gelegen, und es sei ein wahres Wunder, dass heute niemand zu Schaden gekommen sei. Immerhin zöge es gerade zu Halloween immer wieder Menschengruppen in den Steiger. Er habe seine Taten noch vor Ort gestanden, darunter einen bislang unaufgeklärten Mord, hieß es weiterhin. Die Polizei war dem so genannten Halloweenmörder schon seit mehreren Wochen auf den Fersen, der Justizminister sprach von einer Meisterleistung. Mit der Verhaftung darf die Landeshauptstadt nun wohl endlich aufatmen.“
„Ihr wart aber heute nicht zufällig im Steiger unterwegs?“, fragt Claudia besorgt und zeigt demonstrativ auf die vollgestopften Rucksäcke.
Keine Antwort. Alle sitzen stumm vor ihren Getränken. Das Lachen ist ihnen im Hals steckengeblieben.