06 – Die Leiche im Keller (Teil II)

„Ich glaube, er ist tot!“, sagt Martin leicht panisch, nachdem er aufgestanden ist.

„Was machen wir denn jetzt?“, fragt Maria. Sie weint fast vor Aufregung. Allmählich begreifen die WG-Bewohner den Ernst der Lage.

Und Sven murmelt unentwegt: „Scheiße! Scheiße! Scheiße!“ Auch ihn überkommt mehr und mehr die Panik. „Ich hab ihn umgebracht!“, sagt er schließlich mit gepresster Stimme und beißt in seine Faust.

Martin kniet sich noch einmal zu dem Alten nieder und hebt dessen Kopf vorsichtig an. Aus seinem Ohr tröpfelt Blut, jetzt ist auch eine große Wunde an seiner Schläfe zu sehen. Sven starrt auf die Flasche in seiner Hand. Sie ist weder zerbrochen noch blutverschmiert.

„Gut möglich, dass der Kerl sich den Schädel beim Sturz aufgeschlagen hat“, sagt Martin, der Sven beobachtet hat, und zieht ihm die Faust aus dem Gesicht.

Sven dreht sich zu ihm um. Er reißt wieder beide Fäuste hoch, wirft sich gegen Martins Brust und beginnt zu heulen wie ein Schlosshund.

Nachdem Sven sich etwas gefasst hat, ergänzt Martin: „Es war Notwehr. Wir haben doch alle gesehen, dass er dich angegriffen hat.“

Aber Sven kann das nicht beruhigen. Er ist gerade taub für alles außer für die Gedanken, die in seinem Kopf kreisen und ihn vorwurfsvoll anschreien.

„Es ist nicht deine Schuld!“, schlägt nun auch Saskia in die Kerbe.

Und Ben wirft ein: „Bei euch kann man ja was erleben!“

„Am besten, wir halten einfach dicht.“, schlägt Saskia nach einer Weile vor.

„Das können wir doch nicht machen!“, erwidert Martin, „wir können ihn hier doch nicht liegen lassen!“

Danny spielt inzwischen ein paar Möglichkeiten durch. Sie könnten ihn liegen lassen. Zwar kommt vermutlich so schnell niemand her, aber der Leichengeruch würde ihn gewiss verraten. Sven könnte sich stellen und auf Notwehr plädieren. Aber sie würden viele Fragen stellen. Unangenehme Fragen. Warum sie gerade zufällig hier herumgelaufen. Warum niemand eingegriffen hat. Warum sie dem Alten ausgerechnet hier unten begegnet sind. Auf den zweiten Blick auch keine gute Entscheidung. Sie könnten ihn aus dem Keller mitnehmen… „Wir könnten ihn hier wegbringen!“, platzt es aus ihm heraus. Alle starren ihn an.

„Wie stellst du dir das vor?“, will Martin wissen.

Ben muss sich gerade vorstellen, wie sie sich zu acht die Kellertreppe nach oben quälen, die Leiche am Kopf und den Füßen gehalten – nein: in einem großen schwarzen Sack, dann alle Mann durch den hell erleuchteten Flur, im Erdgeschoss spioniert eine unfreundliche Hausfrau mit Lockenwicklern durch die Gardine ihrer Wohnungstür. Auf der belebten Straße schleifen sie die Leiche unter dem grellen Laternenlicht mehrere Häuser weiter bis zum Auto. Zahlreiche Passanten begegnen ihnen und alle ziehen fragende und verurteilende Gesichter… Nein, das geht wirklich nicht.

Eine konkrete Idee hat Danny allerdings auch nicht. „Na ja“, sagt er schließlich. „Wir könnten das Auto in den Hof fahren und die Leiche unauffällig einladen.“

„Unauffällig ist ein gutes Stichwort“, fragt Martin weiter, „Wie willst du das hinkriegen?“

„Auch zum Hof raus sind Fenster.“, merkt Saskia an. Aber etwas angetan ist sie von dieser Idee schon.

Sven hat sich inzwischen von Martins Brust gelöst und wirkt jetzt gefasster. „Wir könnten ihn vielleicht in einem Möbelstück raustragen.“, schlägt er vor. Dass seine Freunde bereits an einem Plan werkeln und es offenbar einen Ausweg aus dieser furchtbaren Situation gibt, lässt ihn allmählich aufatmen.

„In einem Erdmöbel?“, albert Danny herum.

„Pssst!“, macht Saskia. Sein Lachen könnte alle Pläne vereiteln. „Kannst du nicht ein einziges Mal ernst sein?“

„Nee“, flüstert Danny jetzt, „Ich bleibe lieber Danny.“

„Also Wollen wir das ernsthaft durchziehen?!“, fragt Ben ungläubig, „Einen großen Schrank auftreiben und die Leiche ein paar hundert Meter durch den Keller schleppen?“ Er hält inne und spielt diese Möglichkeit noch einmal gedanklich durch. „Das wird eine ganz schöne Arbeit“, stellt er schließlich fest.

„Hast du eine bessere Idee?“, fragt Saskia. Naben ihr steht Maria; ihr ist die Angst ins Gesicht gemeißelt.

„Also, packen wir es an!“, sagt Martin schließlich und wechselt mit fragender Miene von Gesicht zu Gesicht.

„Ich räume mal unseren Korridorschrank aus“, sagt Danny, „Vielleicht kommt jemand mit und bereitet Eimer und Lappen vor und kümmert sich dann um die Sauerei hier?“

„Ich komme mit!“, bietet sich Maria an und folgt Danny. Schon sind die Beiden in der Dunkelheit verschwunden.

„Du nimmst seinen Kopf!“, sagt Saskia zu Sven, „Ben und ich die Beine.“ Wortlos ziehen sie mit der Leiche los.

„Stop! Stop!“, fuchtelt Martin mit den Armen in der Luft herum. Ihm ist das tropfende Blut aufgefallen. Schnell hat er seine Jacke ausgezogen und sie dem Alten um den Kopf gewickelt. Außerdem hilft er jetzt beim Tragen. Nun verschwinden sie im Dunkel des Kellergangs. Nur noch das magere kalte Licht der Handys ist zu sehen, mit denen Thomas und Christine dem Tross den Weg leuchten, während sie wortlos folgen.

 

Im Korridor der WG riecht es nach Chlor. In einer Ecke stapeln sich Schuhe, Klamotten und Kartons. Der Kleiderschrank steht mit offenen Türen leergeräumt bereit. Mitten im Chaos stehen zwei reichlich gefüllte Eimer und ein Stapel Scheuerlappen bereit. Maria hat ordentlich Reinigungsmittel und einen Schuss Klorix reingetan und hilft nun Danny, den leeren Schrank die Treppen hinunterzutragen. Auch die restliche Clique wartet kommt jetzt im Keller des Hauses an.

„Ziehen Sie schon wieder aus?“, hört man die Stimme einer Nachbarin fragen. Ja, es ist die Frau, der nie etwas entgeht, was sich im Treppenhaus abspielt. Und sie tratscht auch gern.

„Nee“, reagiert Danny geistesgegenwärtig, „den bringen wir zu meinem Vater, der will ihn vielleicht haben. Wir bekommen einen anderen dafür.“

Saskia hat von der Kellertür aus alles mitgehört und muss schmunzeln. Noch immer wirkt alles irgendwie surreal – wie ein Traum oder ein Film, an dessen Geschehen man gespannt, aber passiv teilnimmt. Die Anderen passen derweil in einem der leerstehenden Kellerverschläge auf die Leiche auf, damit sie nicht wegläuft.

Schnell ist jetzt das Auto im Hof vorgefahren. Während der Putztrupp mit Eimer und Lappen im Keller von dannen zieht, verstauen Sven und Danny den Schrank mit der Leiche im Kofferraum.

„Verdammt, ist das Ding riesig!“, schimpft Danny. Doch mit heruntergeklappter Rückbank passt es schließlich.

Saskia hat dezent Schmiere gestanden und steigt jetzt mit ein. „Hoffentlich geht das gut!“, sagt sie und atmet tief durch.

„Wird schon“, sagt Sven kurz angebunden, während Danny vorsichtig zur Straße zurücksetzt und dabei leise murmelt: „Party!“

Auf der Straße fällt Saskia eine nicht ganz uninteressante Frage ein: „Wohin fahren wir eigentlich?“

„Am besten erstmal aus der Stadt raus“, schlägt Sven vor. Doch schon bei der nächsten Kreuzung tritt Danny voll auf die Bremse. Blaulicht! Ein Sixpack fährt auf sie zu. Doch an der Kreuzung angekommen, biegt er hastig mit Sirene ab und schießt vorbei. Sven schießt augenblicklich der Angstschweiß auf die Stirn. Aber die Polizei ist schon über alle Berge.

„Hätte mich auch gewundert“, sagt Saskia, als sie vorsichtshalber zur anderen Richtung abbiegen, „wenn die zu uns gewollt hätten.“

Sven schießt gerade durch den Kopf, dass die drei gut in eine Verkehrskontrolle geraten könnten. Wie würde es dann wohl weitergehen? „Dürfen wir mal einen Blick in diesen Schrank werfen?“ – „Nein, bloß nicht!“ – „Warum denn nicht?“ – „Na, wegen der Leiche!“ Nee, das geht nicht. „Dürfen wir mal einen Blick in diesen Schrank werfen?“ – „Klar, selbstverständlich.“ – „Nanu, was ist denn das?“ – „Whoops, das ist nicht unsere Leiche!“ Nee, das auch nicht. Es ist eine einzige Spießrutenfahrt. Sven fiebert bei jedem Meter, dass alles gut geht und dass es bald endlich vorbei ist.

 

„Ruh dich erst mal aus!“, sagt Saskia in ihrer mütterlich-fürsorglichen Art zu Sven, als sie am Wasserturm, einem Bahn-, Agrar- und Industriegebiet am Erfurter Stadtrand aussteigen, „Du bist ja total nassgeschwitzt.“

Sven ist nicht nur klatschnass, sondern auch blass wie das Ding im Schrank. Trotzdem packt er mit an, den Schrank aus dem Auto zu hieven. Hier draußen ist man um diese Uhrzeit gut abgeschieden und unbeobachtet. In der Ferne sind die Lichter der Stadt zu sehen, ein paar Hochhäuser, eine Hotelreklame. Es ist überraschend leise hier. Nahe den Gütergleisen stehen die drei nun mit dem Kleiderschrank am Kopf einer Fußgängerbrücke über die Bahngleise. Vorsichtig tragen sie ihn auf die Brücke und setzten ihn erschöpft ab.

„Und nun?“, fragt Danny.

„Wir könnten den Alten einfach runterwerfen“, schlägt Sven vor. Er will es einfach nur noch hinter sich bringen.

„Dann sollten wir aber warten, bis ein Zug kommt.“, interveniert Saskia, „Dann sieht es nach einem Unfall aus.“

Diese Idee gefällt Sven sehr. „Gute Idee!“, bestätigt er Saskias Vorschlag.

Danny meint: „Am besten ein Güterzug, das gibt weniger Zeugen und überhaupt weniger Trouble.“

Hervorragend. Jetzt sollte eigentlich nichts mehr schiefgehen. Nun heißt es nur noch abwarten. Auch nachts verkehren hier viele Züge, es kann sich nur um Minuten handeln. Die Sekunden vergehen jedoch wie in Zeitlupe, die Spannung ist unerträglich… Endlich sind in der Ferne Scheinwerfer zu erkennen. Drei Stück. Sie spiegeln sich in den blankgefahrenen Schienen.

„Da kommt ein Zug!“, bemerkt Saskia aufgeregt und zeigt kurz in seine Richtung.

„Ist es denn ein Güterzug?“, fragt Danny.

„Was weiß denn ich?“, antwortet Saskia ruppig. Ihre Nerven liegen blank.

Sollen sie das wirklich tun? Der Zug kommt näher. Ja, es ist ein Güterzug, jetzt kann man es erkennen.

„Los“, sagt Sven gehetzt, „lass durchziehen jetzt!“

Mit Danny und Saskia hebt er die Leiche aus dem Schrank. Der Zug ist fast an der Brücke. Zu dritt stoßen sie den Alten über die Brüstung und ducken sich sofort hinter dem Geländer, um von unten nicht gesehen zu werden. Eine endlose Sekunde später sind ein lautes Zischen und allmählich anziehende Bremsen und Quietschgeräusche zu hören, als ob ein Güterzug eine Gefahrenbremsung einleiten würde. Ohne nachzuschauen, watscheln die Drei im Entenschritt geduckt zum Auto zurück.

Plötzlich fällt Sven ein, dass Martins Jacke noch um den Kopf der Leiche gewickelt war. „Die Jacke!“, schreit er aus voller Kehle und springt aus dem Entengang auf, „Wir haben Martins Jacke vergessen!“ Er sucht den Blickkontakt zu Saskia und Danny, doch die sind nirgends zu sehen. Er bekommt Panik. Der Schweiß schießt ihm wieder auf die Stirn. Was jetzt? Wahrscheinlich würde die Jacke die Tat auffliegen lassen, vielleicht würden sie alle ins Gefängnis kommen, vielleicht ist die Polizei ihnen bereits auf der Spur. Ihm wird übel und schwindelig. Jetzt tauch ein Hubschrauber am Horizont auf. Er nähert sich und tastet die Umgebung mit einem hellen Suchscheinwerfer ab. Hinter seinem Rücken ist das Hupen des Güterzugs zuhören. Es ist aus, denkt Sven, er beginnt zu rennen. Er muss um jeden Preis das Auto erreichen. Die Lok hupt. Er läuft um sein Leben. Das Auto kommt in greifbare Nähe. Der Zug hupt. Jetzt trifft ihn der Suchscheinwerfer, Sven steht mitten im Licht. Sein Herz rast wie wild. Die Lok hupt. Der Scheinwerfer blendet ihn, er stolpert und geht zu Boden. Der Zug hupt.

 

„Willst du heute nicht zur Arbeit?“, rüttelt Maria ihn wach. Sie hat die Vorhänge aufgezogen, die helle Sonne flutet Svens Zimmer. Das laute Tuten seines Weckers nervt. Entnervt haut er im Halbschlaf auf die Schlummertaste. „Dein Wecker tut schon seit einer Ewigkeit“, sagt Maria, „war wohl gestern Abend etwas zu viel Schnaps?“

Sven dreht sich noch einmal zum Wecker. Autsch! Er hält sich den Kopf und wischt sich den Schweiß von der Stirn. jetzt erinnert er sich dunkel: Das gemeinsame Abendessen, der Nordhäuser Doppelkorn, die Sterni hat er nicht gezählt…

„Du bist gestern am Tisch fast eingeschlafen, da haben wir dich halt ins Bett gebracht.“ Maria kichert leise und legt ihm eine Kopfschmerztablette hin. „Und was ist mit Martins Jacke?“, fragt sie, „Du hast da irgendwas im Schlaf gemurmelt.

In der Tür hat sich in zwischen Danny aufgebaut: „Los, mein Alter“, sagt er, „Wenn du es noch pünktlich zur Arbeit schaffen willst, dann zieh dich schnell an.“ Er deutet demonstrativ auf die Uhr. „Bevor ich zur Vorlesung gehe, fahre ich dich hin.“

 

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