03 – Auftakt

„Wenn Sie möchten, können Sie das alles nochmal nachlesen, meine Literaturliste haben Sie ja. Wer einen Leistungsnachweis braucht, kommt bitte kurz zu mir. Ansonsten danke ich Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.“ Die Studenten klopfen auf ihre Tische. Gelangweilte Gesichter atmen erleichtert auf. Ein teils respektvolles, teils resigniertes Klopfen füllte den Hörsaal, gepaart mit allgemeinem Volksgemurmel. Raschelnde Jacken, klappende Tische.

„Boah, das war ja mal wieder die pure Langeweile“, sagt Ben, „Für eine Pädagogikvorlesung echt keine grandiose Leistung.“

Danny, der während der Vorlesung neben Ben gesessen hat, rückt die Kapuze seines Sweaters zurecht: „Dem Groß kann man einfach nicht lange zuhören. Selten so eine einschläfernde Vorlesung gehört.“

Danny und Ben haben vor einigen Semestern gemeinsam begonnen, Erziehungswissenschaften zu studieren. Am ersten Tag haben sie sich zum „feierlichen Umtrunk“ kennengelernt, einem feuchtfröhlichen Willkommensfest für neue Studenten. Mit der Masse kämpfen sie sich die Stufen in Richtung Ausgang hinauf. Heute war der Hörsaal nicht allzu überfüllt, Ben und Danny haben heute einmal nicht auf den Stufen sitzen müssen. Danny dreht sich noch einmal um und lässt seinen Blick hastig durch den Hörsaal schweifen: „Wo ist eigentlich Maria? Wollte sie nicht mit uns heimfahren?“

Da ist sie schon. Sie ist zwar eher klein geraten, aber Dannys leuchtend grün gefärbter Iro fällt in der Masse auf. Danny ist seit vielen Jahren schon Punk. Maria, die ein paar Reihen hinter den Beiden gesessen hat, drückt sich durch die Schlange nach vorn. Sie studiert zwar Religionswissenschaft, besucht aber die eine oder andere Pädagogikvorlesung – aus reiner Neugier, wie sie immer sagt. Sie tippt Ben von hinten auf die Schulter und grinst zu den Beiden hinauf: „Hier bin ich!“ Maria grinst immer so ein bisschen künstlich. Dann sieht sie so schüchtern aus. Oder genauer gesagt, noch schüchterner, als sie sowieso schon ist. Danny und Ben gehören zu den Wenigen, zu denen sie hier an der Uni Kontakt gefunden hat. Und so quetschen sie sich nun gemeinsam durch die Hörsaaltür ins Freie.

 

An der Straßenbahnhaltestelle angekommen, kommt das Thema noch einmal auf die langweilige Vorlesung von Professor Groß.

„Hat dich der Groß heute auch wieder so gelangweilt?“, will Danny wissen, „ich bin ein paarmal eingeschlafen.“

Ben lacht.

„Der hat es bestimmt auch nicht einfach, vor so vielen Leuten“, nimmt Maria ihn in Schutz, „stell dich erst mal in so einen vollen Hörsaal und mach eine Vorlesung!“

Ach ja, Ben erinnert sich wieder. Deswegen mag er Maria nicht so besonders. Oder, wie er immer sagt, sie ist humorbehindert. Einmal hat er es auch laut ausgesprochen. Da war Polen offen. Never again.

„Boah, lach mal!“, sagt Ben, immer noch kichernd.

Maria ist ein wenig genervt und schaut verlegen zu Boden. „Ja, ja. Schon gut.“ Maria schaut oft nach unten, um unangenehmen Gesprächen aus dem Weg zu gehen. Trotzdem schafft sie es immer wieder, kleine Schwätzchen uncool werden zu lassen. Dafür muss sie sich auch immer wieder aufziehen lassen.

Die Bahn kommt.

„Jaaa, ich bleib cool.“, sagt Maria, während sie einsteigen.

Ben hat sich vorgenommen, etwas netter zu Maria zu sein und hält jetzt die Klappe. Danny freut sich schon auf daheim. In der WG ist heute gemeinsames Kochen geplant. Es wird bestimmt wieder ein gemütlicher Abend.

 

 

„Da seid Ihr ja!“, ruft Saskia aus der Küche, als die Drei durch die Wohnungstür scheppern. Sie hat bereits angefangen, Kartoffeln zu schälen. Auch sie hat Erziehungswissenschaften studiert, ist aber mal wieder arbeitslos. Sie tut sich schwer, den Mund halten. Das macht sie aufrichtig und direkt, aber eben auch immer wieder arbeitslos. Aber wenigstens hat sie jetzt Zeit, das Essen vorzubereiten. Sven arbeitet in einem Klamottenladen und hat bereits Feierabend. In gewisser Weise ist der das Gegenteil von Saskia. Er bekommt seinen Mund kaum auf und findet entsprechend schwer Kontakt zu Anderen. Wenn er etwas sagt, ist es aber fast immer ein Brüller. Er lebt in seiner eigenen Welt und haut gerne Kalauer raus. Jetzt steht er still neben Saskia und schnippelt das Gemüse. Ben ist oft zu Gast und gehört schon fast zum Inventar. Er ist durch Danny an die WG geraten. Manchmal kellnert er in einem kleinen Café in der Altstadt. Heute nicht, heute hat er keinen Dienst.

„Könnt Ihr nach dem Braten sehen?“, fragt Saskia.

Während die Jungs ihre Jacken ablegen, ist Maria schon in die Küche geschlüpft und drückt Saskia kurz. Jetzt kontrolliert sie das Fleisch im Backofen: „Habt Ihr ein Glück, dass Claudia heute nicht vorbeikommt.“

Claudia kommt manchmal zu Besuch. Sie lacht gern und viel, mag Mädchen und – ist Veganerin. Zumindest sagt sie das, aber manchmal – und in letzter Zeit immer öfter – sieht man sie dennoch mal ein Stück Wurst in den Mund stecken. Auch Nudeln isst sie gern. Eiernudeln. „Ach, das bisschen Ei“, windet sie sich dann immer raus. Sie ist also sozusagen eine Beinaheveganerin. Ein Braten wäre vielleicht zu viel des Guten. Aber für heute ist sie nicht angekündigt. Schade, denn sie bringt immer die besten Witze in die Runde.

 

Geschirr klirrt, Besteck klappert. Es schmeckt. Dass es Braten gibt, ist nicht gerade alltäglich, aber manchmal muss es eben sein. In der WG ist es zur Gewohnheit geworden, immer mal einen schönen gemeinsamen Abend zu machen. Dann wird gemeinsam eingekauft, gekocht und gegessen, später gibt’s dann eine DVD oder zwei. Und einen Umtrunk selbstverständlich auch. Manchmal ist die Runde noch größer. Martin, Christine und Thomas wohnen ebenfalls hier, sind aber über das Wochenende schon zu ihren Eltern gefahren.

 

In der großen Küche rödelt die Spülmaschine. Saskia sagt immer, dass sie es nicht abkann, wenn nach dem Essen die Küche aussieht wie ein Schlachtfeld. Na ja, irgendwie hat sie ja auch recht. Im Hintergrund läuft Musik.

„Kennst du eigentlich den Unterschied zwischen einem Wissenschaftler, Philosophie und Religion?“, fragt Danny Maria. Ein flüchtiges Zucken huscht über Marias Gesicht.

Dann hebt sie ihre Augenbrauen: „Na, jetzt kommt bestimmt nix Gutes. Schieß los…“

„Der Philosoph sucht in einem vollkommen verdunkelten Raum nach einer Katze.“, beginnt Danny, „Der Wissenschaftler sucht in einem vollkommen dunklen Raum nach einer Katze und findet sie. Der Theologe sucht in einem vollkommen verdunkelten Raum nach einer Katze, die nicht da ist, und ruft: „Ich habe sie gefunden!“

Alles lacht.

Maria versucht ein erstes Gesicht aufzusetzen, kann sich ein verhaltenes Lachen aber auch nicht verkneifen.

„Müsste der Philosoph nicht ein Metaphysiker sein?“, wirft Ben ein.

„Dann würde er ja nach einer Katze suchen, die gleichzeitig da ist ist und nicht da.“, merkt Maria an.

Der eher schüchterne Sven ist verwirrt: „Wie – gleichzeitig da und nicht da?“

„Da gab es doch mal ein Experiment mit einer Katze, oder?“, wirft Ben ein.

„So in etwa“, antwortet Maria, „Irgendsoeiner hat mal eine Katze zusammen mit einer Giftampulle in eine Kiste gesteckt und die Kiste zugemacht. Von außen kann man dann nicht mehr sagen, ob die Katze lebt oder tot ist. Oder so.“

„Der Irgendsoeine war Schrödinger“, sagt Ben, „und er hat es auch nicht wirklich gemacht, sondern das war nur ein Gedankenexperiment zum Thema Quanten.“

„Apropos Quanten“, wirft Saskia ein, „kannst du deine mal ein bisschen einziehen, du hast mich schon wieder getreten.“

Sven hat mitgehört: „Deswegen machst du wohl auch so einen betretenen Eindruck!“, lacht er.

„Apropos Katze“, fragt Saskia in die Runde, „Habt Ihr mal darüber nachgedacht: Ein Butterbrot fällt doch immer mit der Butter nach unten auf den Teppich…“

„Murphys Gesetz!“, wirft Ben ein.

„Ja, genau“, erwidert Saskia, „Und eine Katze landet doch immer auf ihren Pfoten. Was passiert eigentlich, wenn man einer Katze ein Butterbrot auf den Rücken bindet und die Katze dann vom Tisch schubst?“

Da hat Danny auf dem Smartphone schon ein YouTube-Video ausgekramt, in der ein Wissenschaftler genau das getan hat. Die Katze im Video rotiert in rasender Geschwindigkeit um die eigene Achse und erzeugt Strom. War wohl ein Werbespot. Sucht mal nach „Katze+Marmeladenbrot“!

„Ganz klar“, sagt er, „Dann ist das Energieproblem gelöst! Was für eine Ironie…“

„Ironie?“, wundert sich Sven, „Kennst du einen Satz mit ‚Ironie‘?“

Danny starrt ihn gespannt an.

Sven fährt fort: „Warum wäscht der Punk seinen Iro nie?“

Das geht so den ganzen Abend. Nicht nur heute, das ist oft so.

„Und Ministranten?“, fragt Sven weiter, „Wie nennt man die in der Kirche heutzutage?“

Maria wird hellhörig.

„Na, Blasebalg natürlich!“

Maria klatscht sich mit der flachen Hand auf die Stirn, aber Sven kriegt sich gar nicht wieder ein.

„Da hab ich auch noch Einen.“, sagt Ben,

„Ein Pfarrer und ein Rabbi gehen in einem Park spazieren. Es ist sauheiß. Da kommen die Beiden an einem kleinen Teich vorbei. Kurz entschlossen reißen sie sich die Klamotten runter und gehen ins Wasser, bis sie bis zu den Knien im Wasser stehen, und plantschen und spritzen sich gegenseitig voll. Plötzlich kommt eine Touristengruppe vorbei, die Leute starren den Pfarrer und den Rabbi an. Instinktiv hält sich der Pfarrer seine Genitalien mit beiden Händen zu, der Rabbi verdeckt mit beiden Händen sein Gesicht. Als die Touristen wieder weg sind, frag der Pfarrer: ‚Warum hast du dir denn das Gesicht zugehalten und nicht die Genitalien?‘ Da sagt der Pfarrer: ‚Meine Gemeinde erkennt mich am Gesicht!‘

„Wird das jetzt Religionsbashing?“, funkt Maria dazwischen. Sie ist sichtlich angesäuert. „Witze über Atheisten habt Ihr wohl nicht drauf?!“

„Aber klar doch!“, wirft Sven ein, „Was kommt raus, wenn man einen Atheisten mit einem Jehovazeugen kreuzt?“

In der Runde stellt sich gespannte Stille ein.

„Was denn?“, will Maria wissen.

Sven löst auf: „Einer, der bei wild fremden Leuten an der Tür klingelt und nicht weiß, warum.“

„Warum gibt es eigentlich kaum Witze über Atheisten“, fragt Maria.

„Was willst du denn für Witze über jemand reißen, der NICHT an übersinnliche Phantasiewesen glaubt?“, erwidert Danny.

„Woher willst du wissen, dass es Gott nicht gibt?“, fragt Maria, „Gott sieht alles und bestraft auch alles.“

Plötzlich – zack! Alles dunkel. Die Musik ist aus, alle sind still. Stromausfall.

„Nanu, was ist denn jetzt los?“, bricht Saskia überrascht das Schweigen.

„Daher weiß ich, dass es sowas wie einen Gott nicht gibt“, sagt Danny, „denn wenn er uns jetzt für unseren Nichtglauben straft, warum straft er dich treu Gläubige gleich mit?“

„Gottes Wege sind unergründlich!“, erwidert Maria.

„Ach, hör doch auf.“, lacht Danny.

Und Ben mischt sich ein: „Das ist eure Antwort auf alles, wenn ihr nicht weiterwisst.“

Maria schweigt. Im Dunkeln fühlt man, wie ihr Gesicht rot leuchtet.

Saskia hat inzwischen aus dem Fenster geschaut und die Lage gecheckt. „Die ganze Straße ist stockdunkel“, berichtet sie, „selbst die Laternen.“

„Uuh, jetzt bestraft dein Gott gleich die ganze Straße“, sagt Danny zu Maria, „oder hast du etwa vergessen zu beten?“ Er lacht.

Maria findet das gar nicht lustig. „Dazu sage ich jetzt nichts mehr.“, sagt sie mit beleidigter, fast weinerlicher Stimme.

Sven stellt eine Kerze auf den Tisch und zündet sie an.

„Jetzt streitet doch nicht schon wieder.“, wirft Saskia ein. Streit kann sie nicht leiden.

„Streit? Wir streiten doch nicht“, fragt Danny, „Maria erzählt einfach nur Unsinn!“

In diesem Augenblick geht das Licht wieder an.

„Na, guck Einer an!“, merkt Danny sichtlich amüsiert an, „Dein Gott gibt mir Recht!“

 

Leseprobe als PDF herunterladen