02 – Eine unerwartete Wendung
Oder: Wie alles begann, Teil II.
„Ist unsere WG jetzt eigentlich komplett?“, fragt Saskia, ihres Zeichens notorische Fettnäpfchentreterin und entsprechend regelmäßig arbeitslose Erziehungswissenschaftlerin, vor allem jedoch WG-Älteste, und lässt ihren Blick durch die Runde schweifen.
Die etwas klein geratene, herzensgute Maria, die es manchmal zu gut meint, an den lieben Gott glaubt und – oh, welches Klischee – Religionswissenschaften studiert, ist ebenfalls von Anfang an dabei. Sie erwidert Saskias Blick wortlos und lässt ihren nun abermals von Gesicht zu Gesicht wandern.
Danny, altgedienter Punk, in der WG ebenfalls Aktivist der ersten Stunde, mit dem notorisch großen Maul, aber immer aufrecht und loyal, ist in sein Smartphone versunken. Er studiert Erziehungswissenschaften, hat aber noch keinen Schimmer, wohin ihn seine Studienplatzwahl einmal führen wird.
„Ich denke doch schon.“, reagiert Christine, die erst vor kurzem hinzugestoßen ist. Im Gegensatz zu ihrem Hang zur Esoterik und zur Homöopathie, verbindet ihre Religiosität sie mit Maria. Ihre Lehre im Tierbedarfshandel hat sie zu Gunsten ihrer Physiotherapeutenausbildung abgebrochen. „Oder?“, fragt sie schließlich verunsichert.
„Wie meinst du das?“, fragt Martin, der einer der „Alten“ ist und Gartenbau an der FH studiert. Auch er glaubt an alles Mögliche oder besser gesagt: An alles Unmögliche? „Wir sind schon doch alle hier.“
„Ich meinte ja nur, ob wir noch ein paar Protagonisten für unsere künftigen Geschichten brauchen.“, erläutert Saskia ihre Frage.
Tim starrt auf das kaffeebekleckerte Papier auf seinem chaotischen Schreibtisch und nuckelt nachdenklich an seinem Füller. Braucht die WG wirklich Verstärkung?
„Nee…“, mischt sich jetzt auch Sven ein, der zweite Neuling in der WG, der sich mit neuen Kontakten etwas schwertut, aber sehr humorvoll und ironisch ist und gern lacht. Er ist sehr bodenständig und tolerant und für einen Klamottenverkäufer ziemlich wuchtig im Auftreten. Er ergänzt: „Ich finde, wir sind perfekt, so wie wir sind.“ Provokativ schaut er zu Thomas: „Oder was meinst du?“
Thomas ist der letzte der drei neu Aufgenommenen und noch sehr jung. Seit seinem Abitur ist er auf der Suche nach einer beruflichen Perspektive und nach sich selbst. Überhaupt wirkt er etwas unreif und naiv und ist nun das Nesthäkchen der WG. Er nickt nachdenklich: „Finde ich auch.“
„Wollte ich nur wissen“, sagt Saskia, „Eigentlich sehe ich es genauso.“
„Lassen wir doch die Zukunft einfach auf uns zukommen!“, wirft Danny ein. „Hab ja zum Beispiel Ben an der Uni kennengelernt.“
„Du und Ben…“, lacht Saskia, „Bring ihn doch mal mit her!“
Da klingelt es an der Tür. „Erwartet jemand Besuch?“, fragt Maria verwundert, als sie zur Wohnungstür läuft und öffnet. „Tach!“, grüßt der ältere Mann, er mag vielleicht Anfang 60 sein, in die Runde, als er das Wohnzimmer betritt, „Die neuen Gesichter hier kenne ich ja noch gar nicht!“ Er nickt den Neuen etwas schüchtern zu, dann wendet er sich Saskia zu: „Alles ok in Bad und WC?“ Jetzt fällt es ihr wieder ein. Vor ein paar Tagen hatte sie wegen der ständig laufenden Toilette bei der Hausverwaltung angerufen. Sie begleitet ihn ins Badezimmer.
„Wer ist denn das?“, will Thomas wissen.
„Das ist Manfred“, sagt Maria, „unser Hausmeister.“
„Manchmal kommt er aber auch einfach nur so auf ein Bierchen vorbei, wenn er mal Zeit hat.“, ergänzt Danny.
Saskia ist inzwischen wieder ins Wohnzimmer gekommen und hat mitgehört: „Ja, wenn er denn mal Zeit hat…“
Während Manfred im Bad werkelt und gelegentlich laut vor sich hin flucht, klingelt es nochmals, diesmal von der Haustür aus. Saskia geht zur Sprechanlage. „Doreen, von dir hab ich ja lange schon nichts mehr gehört!“, hört man Saskia im Korridor in die Sprechanlage rufen, während sie den Türöffner drückt. Erwartungsvoll öffnet sie die Wohnungstür und stellt sich ins Treppenhaus.
„Ihr habt ja immer noch keinen Aufzug!“, scherzt bald darauf die vielleicht mittefünfzigjährige Doreen, die vom Treppensteigen etwas außer Puste geraten ist, und drückt Saskia erst einmal ausgiebig. Dann treten sie in die Wohnung. Doreen legt ab und wird nun den Neuen vorgestellt: „Das ist meine Doreen!“, stellt Saskia ihre Freundin der neugierigen Runde vor, „Die hab ich mal an der Uni aufgegabelt.“ Dann dreht sie sich wieder zu Doreen: „Oder? Wie lange kennen wir uns nun schon?“ – „Ach“, winkt Doreen ab, „bestimmt schon über zehn Jahre.“ Sie hält kurz inne und schiebt dann nach: „Bin ja nun auch schon über die 50er-Marke gerutscht…“
„Was haste denn studiert?“, fragt Thomas etwas schüchtern, aber neugierig.
„Studiert? Ich? Nichts!“, lacht Doreen, „Ich habe die Büsche gestutzt.“ Thomas hebt verwirrt seine Augenbrauen.
„Grünanlagenpflege…“, ergänzt Saskia, die Thomas seine Verwirrung angesehen hat. Er muss jetzt ebenfalls lachen.
„Ja, so eine blöde Maßnahme damals“, sagt Doreen, „aber sonst hätte ich dich nicht kennengelernt!“ Wieder tätschelt sie Saskias Schulter. Sie ist nicht die Dünnste und wurde auf mehreren Arbeitsstellen gemobbt. Seitdem fasst sie nirgends mehr festen Fuß. Immerhin, das Trinken hat sie wieder aufgegeben.
„Oh la la!“, ruft Manfred plötzlich laut heraus, als er ins Wohnzimmer kommt. „Einen wunderschönen guten Tag, die Dame!“, reicht er Doreen die Hand wie ein Charmeur. Etwas verlegen hält sie ihm die Hand entgegen. „Ich muss ja sagen, Sie sehen aus wie meine zweite Frau!“, sagt Manfred. Doreen starrt ihn verunsichert an: „Wie oft waren Sie denn verheiratet?“ – „Einmal.“, platzt Manfred heraus. Doreen hält kurz inne. „Na, Sie gehen ja ganz schön ran!“, lacht sie schließlich. „Sie müssen entschuldigen“, sagt der ebenfalls etwas rundliche Manfred, „das ist sonst gar nicht meine Art.“
Wie schmalzig. Das könnte etwas länger dauern, wenn nicht ganz und gar ausufern. Danny schaut auf die Uhr. Draußen ist es schon dunkel. Ach, scheiß drauf, denkt er, ein, zwei Bierchen mit Ben werden schon ok sein. Außer Doreen und Manfred haben sich alle in ihre Zimmer verkrümelt. Saskia ist wortlos in der Küche verschwunden. Ob sie den beiden Gästen vielleicht einen Kaffee…? Nee, eher ist sie vor der kitschigen Flirterei auf der Wohnzimmercouch in die Küche geflüchtet. Wortlos schnür Danny also seine Stiefel, streift seine Jacke über und zieht dann stumm die Wohnungstür hinter sich zu.
Die Nacht ist heute nicht so lau wie in den vergangenen Tagen, etwas Abkühlung war aber schon lange überfällig. Der angenehm auffrischende Wind weht Danny sogar den einen oder anderen Nieseltropfen ins Gesicht. Wirklich ungemütlich ist das Wetter aber nicht. Danny zieht den Reißverschluss seiner Harringtonjacke bis ganz nach oben und richtet den Kragen mit den Buttons auf. Die harten Sohlen seiner Stiefel hallen an den Hauswänden wider und klingen wie ein Militäreinmarsch. Im monochromatischen Licht der Natriumdampflampen verwischt die Realität zu einem gelblichen Brei. Jetzt leuchtet selbst Dannys Irokesenschnitt nicht.
Vereinbart war das Treffen mit Ben heute nicht, aber Danny musste die Flucht ergreifen und dieser schlecht inszenierten Schnulze in der WG einfach entkommen. Zu Ben trennen ihn nur ein paar Blocks; auch der wohnt in einem der zahlreichen Gründerzeit-Reihenhäuser hier im Kiez. An einer wenig belebten Stelle führt kleine Brücke über einen kleinen Seitenarm der Gera. Danny verlangsamt seine Schritte und lauscht auf. Der Wind trägt verdächtige Klänge an Dannys Ohren. Boehse Onkelz? Frei.Wild? Danny kann die Fetzen nicht klar zuordnen, aber irgendwie klingt die Musik verdächtig. Ein ungutes Gefühl beschleicht ihn plötzlich. Schallt es aus einer nahegelegenen Wohnung, kommt es aus einem Auto? So oder so, rechtsoffenes Pack muss es sein, da ist sich Danny sicher. Soll er einfach weiter seines Weges ziehen oder die Konfrontation suchen, das fragt er sich jetzt. Doch für die Entscheidung bleibt keine Zeit mehr, als hinter einer Ziermauer, etwas abseits vom Gehweg, plötzlich ein Kerl zu sehen ist. Er sitzt im Dunkeln auf einem alten Radiorekorder, aus dem ein in die Jahre gekommen klingender Song schallt. Textfetzen wie ‚Religion‘ und ‚Ich bin nicht dein Sohn‘ dringen nun an Dannys Ohren. Der Rekorder ist mit weißen Flecken, eher mit Klecksen, übersät, der fremde Typ sitzt wie auf einem Kutscherbock. Danny mustert ihn: Von den ebenfalls bekleckerten und verdreckten Arbeitsschuhen über die kurze weiße Maurerhose bis hinauf zum Onkelz-Shirt; die Unterarme auf den Knien abgestützt, umgreift der Fremde anstelle von Pferdezügeln mit beiden Händen eine Flasche. Die Hände schmutzig, die Schultern eher breit, den Kopf kahlgeschoren. Vielleicht Mitte, Ende zwanzig. Erst jetzt fällt Danny auf, dass der Fremde ihn ebenfalls anstarrt. Er bleibt ein paar Schritte vor dem Unbekannten stehen und deutet auf den Rekorder: „Onkelz?“, fragt er. Der Fremde dreht die Lautstärke herunter und starrt Danny dann wieder an. „Hä?“, fragt er plump. Offenbar hat er Danny wegen der Musik nicht verstanden. Danny geht einen Schritt auf ihn zu. „Ob das Boehse Onkelz sind, hab ich gefragt!“, sagt er betont unfreundlich. „Was geht dich das an, du Zecke?!“, pöbelt der Fremde zurück. Das kann Danny gar nicht ab. „Auf die Fresse oder was?!“, zischt Danny und geht demonstrativ noch einen Schritt auf den Fremden zu. Der stellt ruck-zuck sein Bier auf den Boden und steht auf: „Na los, nur zu!“ – „An dir Wichser mache ich mir doch nicht die Finger schmutzig!“, keift Danny und macht nun vorsichtshalber wieder einen Schritt zurück, nachdem ihm klar wird, dass der Fremde einen halben Kopf größer und nicht gerade ein Hänfling ist. Außerdem schießt Danny durch den Kopf, dass er es mit einem gestandenen Kerl vom Bau zu tun hat. „Verpiss dich, Junge!“, faucht der Fremde jetzt. Danny ist kann ihn nicht einschätzen. Er weicht nach hinten bis zum Bürgersteig zurück und geht zügig weiter. Warum musste er ihn anmachen, fragt sich Danny. Er ärgert sich über sich selbst. Das war nicht die erste Situation, die Danny unnötigerweise heraufbeschworen hat. Er dreht sich vorsichtshalber noch einmal um und schaut zurück. Die dunkle Ecke hinter der Ziermauer ist nicht mehr einsehbar. Jetzt verlangsamt er seine Schritte, auch um besser hören zu können, sollte ihm der Fremde doch noch nachgelaufen kommen.
„Ey, Zecke!“, hört Danny plötzlich ein paar Meter hinter sich. Er dreht sich wieder um und schaut noch einmal zurück, geht aber langsam rückwärts weiter. Der Fremde ist jetzt aus seiner dunklen Nische herausgekommen und steht auf dem Gehweg: „Komm mal zurück!“ Er hält das Bier in der Hand. Breitbeinig wie ein Cowboy, der gerade ziehen will, steht er da und lässt Danny nicht aus den Augen. Danny bleibt nun stehen und hält inne. Er kann die Situation beim besten Willen nicht einschätzen. Dass der Fremde ihn als Zecke betitelt, ist ja kein gutes Zeichen. „Nun komm noch mal her bitte!“, ruft der Fremde ihm wieder zu. ‚Bitte‘? Das irritiert Danny umso mehr. Aber am Ende siegt die Neugier, und er läuft langsam zurück. Die Gedanken kreisen um seinen Kopf. Onkelz-Lieder, ‚Zecke‘, die kräftige und rüpelhafte Gestalt des Fremden, jetzt das Wörtchen ‚Bitte‘. Ein Trick könnte dahinterstecken, Dannys letzte Stunde könnte geschlagen haben; er weiß es nicht. Gedankenversunken geht sein Blick kurz zu Boden. Es sind noch ein paar Schritte bis zur Ziermauer. Als Danny wieder aufschaut, ist der Fremde nicht mehr zu sehen. Trotzdem verlässt er den Bürgersteig und tastet sich vorsichtig Schritt um Schritt zur dunklen Ecke vor. Seine Augen müssen sich erst kurz an die Dunkelheit gewöhnen. Die Musik ist verstummt. Ein Klirren ist jedoch zu vernehmen. Da ist der Fremde wieder, er richtet sich gerade wieder von einem Bierkasten neben dem vollgekleckerten Rekorder auf und hält jetzt eine zweite entkorkte Flasche Bier in der Hand. Stumm und demonstrativ hält er sie Danny unter die Nase. „Mit einem Fascho trinke ich nicht!“, lehnt Danny lautstark ab, „Was willst du denn nun von mir?“ – „Nur ein Bier trinken!“, sagt der Fremde. Danny hält wieder eine Weile inne. Es fällt ihm schwer, eine Entscheidung zu fällen. Eigentlich weiß er nicht, woran er ist, und das verunsichert ihn. Uneigentlich ist er nun mal sehr neugierig. Außerdem fühlt sich Danny jetzt ziemlich sicher. Stumm hält ihm der Fremde noch immer die Flasche hin, als wollte er sagen, jetzt zier Dich nicht so und nimm mein Versöhnungsangebot endlich an! Also gut, Danny nimmt die Flasche Bier schließlich, lässt den Fremden vorsichtshalber jedoch nicht aus den Augen. Vor allem achtet er unwillkürlich auf Bewegungsmuster. „Jetzt mach dich mal locker und setz dich hin!“, lacht der Fremde und zeigt auf den Bierkasten neben dem verstummten Ghettoblaster. „Bevor ich mich setze“, sagt Danny, „sag noch einmal Zecke, und es klatscht!“ – „Ja ja, gebongt!“, begegnet der Fremde furchtlos, „und sag du noch einmal Fascho, na ja, du weißt schon, dito!“ Er lacht. „Brauchst aber keine Angst zu haben.“, fügt er hinzu und hält Danny seine eigene Flasche zum Anstoßen hin. Zögerlich prostet Danny dem Fremden zu. Erst, als dieser wieder auf seinem Rekorder Platz nimmt, setzt sich Danny auf die Bierkiste und erwidert: „Du brauchst auch keine Angst zu haben.“ Beide nehmen einen kräftigen Schluck. Das verbindet die Beiden ein wenig. „Alter, sieh mich an“, setzt der Fremde seine Flasche ab und breitet die Arme aus, „sehe ich aus, als hätte ich Angst?“ Er lacht kurz, schlägt Danny dann aber freundschaftlich mit der flachen Hand auf den Rücken. Dann wechselt er sein Bier von der rechten in die linke Hand und reicht ihm seine rechte: „Ich bin übrigens Steve.“ – „Danny.“, sagt Danny. Er klingt immer noch etwas kurz angebunden. „Also, Meiner“, fragt Steve, „warum so feindselig?“ Danny ist ziemlich verblüfft über diese Wendung. Er findet nicht die richtigen Worte. „Ich habe heute den ganzen Tag gearbeitet und bin fick und fotzi.“, fährt Steve schließlich fort. Danny muss über die gelungene Fix- und Foxi-Verunglimpfung laut loslachen, das Bier schäumt ihm jetzt aus der Nase. Er muss seine Flasche abstellen und sich schnäuzen. In der Nase und im Rachen brennt es wie Sau. Steve hat das beobachtet und muss sofort mitlachen: „Ordentlich trinken kann er auch nicht…“ Es dauert eine kurze Weile, bis Danny wieder reden kann. Er muss über sich selbst lachen. „Was arbeitest du denn?“, fragt er dann. „Ich bin Maurer“, antwortet Steve, „heute durfte ich dort drüben den ganzen Tag alleine eine Wohnung neugestalten.“ Er weist auf die Gründerhausreihe auf der anderen Straßenseite, die von hier aus frei zu sehen ist. „Also ein paar Wände wegreißen, paar neue Wände hochziehen.“ Gemeinsam sitzen die Beiden auf dem Rekorder und der Bierkiste im dunklen Schatten der Bäume, durch deren Wipfel die Straßenbeleuchtung nur sporadisch hindurchflimmert, und starren auf das im Umbau befindliche Haus. Danny nickt stumm. Er hat durchaus Respekt vor der harten körperlichen Arbeit von Steve. „Und du kennst mich gar nicht“, fährt Steve jetzt fort, „und pöbelst mich einfach an, obwohl ich dir nichts getan habe.“ Danny bleibt stumm. Dieser fremde Typ ist gar nicht mal so unsympathisch. Danny wäre es lieber, wenn Klischees und Weltbilder einfacher gestrickt wären. Das Feindbild verwischt immer mehr. Jetzt gibt es aber nun mal diesen neuen persönlichen Kontakt, der sich als recht komplex erweist. Danny muss sich jetzt also auf Steve einlassen. Er hat ein schlechtes Gewissen. „Soll ich dir mal zeigen, was ich heute gemacht habe?“, fragt Steve und hält schon den Schlüssel der Baustellentür zum Haus gegenüber in der Hand. „Klar!“, willigt Danny neugierig, aber auch erleichtert ein, „Gerne!“
Sie überqueren die Straße und steuern auf die Baustelle zu. „Aber leise bleiben!“, flüstert Steve, als er die Baustellentür aufschließt. Sie betreten das Treppenhaus, und Steve leuchtet mit seinem Handy den Weg. In der ersten Etage stehen beide Wohnungstüren offen. Die Trennwand zwischen den Wohneinheiten ist herausgerissen, es duftet einerseits nach altem, morschem Holz und andererseits kalkig-feucht. Stolz leuchtet Steve auf die Wände, die er bereits hochgezogen hat. Sofern Danny es als Laie beurteilen kann, eine sehr ordentliche und gewissenhafte Arbeit. „Das wird mal eine geile Bude werden“, sagt Danny anerkennend, „so wie unsere WG. Hast du das alles alleine gemacht?“ Gegen die vom fahlen Licht der Straßenbeleuchtung angestrahlten Fenster kann man die Silhouette von Steves Kopf nicken sehen. „Japp“, antwortet er schließlich, „ich bin hier die ganze Zeit alleine.“ Er leuchtet eine weitere Mauer an und fährt fort: „Und vielleicht hab ich sogar Eure WG renoviert, und du pöbelst mich einfach an!“
„Ist ja schon gut“, sagt Danny, während die Beiden im Dunkeln vorsichtig wieder die Stufen zum Hauseingang hinabsteigen, „so ein kleiner Rechter bist du aber schon, hm?“ Steve schließt die Baustellentür ab, und sie wechseln wieder die Straßenseite. In Steves kleinem Schattenreich stehen noch der Rekorder und der Bierkasten. Erst als sie sich wieder gesetzt haben, versucht Steve eine Antwort: „Woran machst du das fest?“ – „Na, zum Beispiel an deiner Mucke.“, wirft Danny ein, „Und komm mir jetzt bloß nicht mit ‚die sind jetzt unpolitisch‘ und diesem ganzen Schwachsinn!“ – „Das habe ich gar nicht behauptet“, rechtfertigt sich Steve, „aber in meiner Lehrzeit haben wir das quasi alle gehört, und das hat ganz schön zusammengeschweißt. Und jetzt sind da diese Erinnerungen, das wirft man doch nicht so einfach weg. Du hast doch auch deine Erinnerungen und deine Musik, oder?“ Steve hat es tatsächlich geschafft, das Thema wieder von der Politik wegzuschieben. „Macht mich das jetzt zu einem Nazi – oder Fascho, wie du vorhin gesagt hast?“, fragt Steve weiter, „Ich hab nichts gegen Ausländer. Ich arbeite fast jeden Tag mit Ausländern zusammen. Mit denen komme ich gut klar, muss ich auch – wir müssen uns aufeinander verlassen können.“ – „Das hat doch gar nicht unbedingt was mit Ausländern zu tun, aber wahrscheinlich habe ich mit Ausländern sogar weniger zu tun als du.“, gibt Danny leise zu. Steve lacht: „Siehst du? – Du Fascho!“ Er knufft Danny in die Seite. Der boxt Steve zurück und sagt: „Zecke, du!“. Auch er musst lachen. Dann wird es Zeit für ein neues Bier. Nach einer ganzen Weile kommt Steve doch noch einmal auf die Politik zurück: „Ich bin so geworden, wie ich jetzt bin. Wie ich bin, wie ich denke, das ist alles eine Reaktion auf meine Umwelt.“ – „Ja, du bist quasi ein Produkt deiner Lebenswelt, so wie ich auch.“, gibt Danny kleinbei. „Ich studiere übrigens Erziehungswissenschaften, merkt man mir das etwa an?“ Er lacht. „Neinnn…!“, lacht Steve ironisch mit, „Wenn du willst, dass ich anders denke, dann musst du schon meine Lebenswelt verändern“. Plopp, öffnet er erst Danny wieder eine Flasche, dann – plopp, noch eine für sich selbst. Und er fügt hinzu: „Sowas wird dir aber bestimmt nicht gelingen.“ – „Warum denn nicht?“, fragt Danny, „Ich nehme dich einfach mit in meine.“ Steve wird plötzlich nachdenklich. „Wie meinst du das?“, will er wissen. „Na, dann müssen wir eben öfters zusammen abhängen“, erklärt Danny, „oder du musst mich künftig in unserer WG besuchen kommen!“ – „Vielleicht mach ich das sogar!“, willigt Steve etwas albern ein. „Vielleicht fänd ich das sogar cool!“, albert Danny zurück. Dann steht er auf, er will ja Ben einen Besuch abstatten. „Willst schon gehen?“, fragt Steve, „Jetzt wo’s am schönsten ist?“ – „Ich muss weiter“, sagt Danny, „ich will noch nen Kumpel besuchen.“ – „Schade.“, sagt Steve. „Allerdings“, gibt Danny zu, „bist du denn häufiger hier?“ – „Na ja, so lange wir hier auf Baustelle sind, schon“, antwortet Steve, „entweder mit den Kollegen oder halt alleine.“ Auch er steht jetzt auf: „Meistens bin ich aber alleine, dann trinke ich hier mein Feierabendbier halt allein. Oder vielleicht mal wieder mit dir?“ Sie schlagen ein, als würden einander sich schon Jahre kennen. „Pass auf dich auf!“, sagt Steve und klopft Danny noch einmal auf die Schulter. Auf dem Gehweg angekommen, dreht sich Danny noch einmal um und winkt ins dunkle Eck. „Und komm mal wieder rum!“, ruft Steve ihm zu. „Aber auf jeden!“, ruft Danny zurück. Dann dreht er sich wieder zurück und läuft bis zur nächsten Straßenecke weiter.
Dort biegt er in die Seitenstraße ein. Nein, es ist nicht die Straße zu Ben. Aber Danny muss erst einmal stehenbleiben und durchatmen. Was ist da gerade passiert? Was hat dieser Steve an sich? Was ist aus Dannys altem Feindbild geworden? Stattdessen machte Steve einen ausgesprochen sympathischen Eindruck, und jetzt pfuscht er unaufhörlich in Dannys Weltbild herum. Jetzt ist er da, dieser persönliche Kontakt, und Danny muss sich nun differenziert damit auseinandersetzen. Immerhin, ein Nazi ist Steve nicht, ganz unproblematisch scheint er aber auch nicht gerade zu sein. Das ist ganz neu für Danny. So ein einfach gestrickter, bodenständiger Typ, aber gerade in seiner einfachen Weltsicht so schlüssig, das macht Steve irgendwie interessant. Und dann schießt Danny noch etwas Anderes durch den Kopf. Sollte er sich vielleicht obendrein eingestehen, dass er so sehr hetero, wie er es sich bisher eingeredet hat, gar nicht ist? Der Gedanke liegt ihm schwer im Magen. Überhaupt umkreisen ihn tausend Gedanken. Er lehnt sich mit dem Rücken an die Hauswand hinter sich und schließt die Augen. Der kühle Wind weht Danny wieder ein paar feine Nieseltropfen ins Gesicht. Doch diesmal rückt er seinen Kragen nicht zurecht. Er steht wie gelähmt gegen die Hauswand gelehnt und kann die Fülle seiner Gedanken einfach nicht fassen. Er ist wie berauscht. Es fühlt sich einerseits gut an, andererseits bedrückend. Konkret einordnen kann Danny seine Gefühle jedoch nicht. So oder so, Steve hat bei Danny ein Knöpfchen gedrückt. Plötzlich muss Danny wieder an Ben denken. Eine Verabredung gab es ja nicht. Also, was tut Danny nun hier? Eine unsichtbare Kraft zieht ihn zu Steve zurück, aber er möchte sich auch gern mit jemandem aussprechen. Da kommt ihm Saskia in den Sinn. Sie würde bestimmt Verständnis… Ach, egal! Jetzt fasst Danny all seinen Mut zusammen und eilt zum dunklen Eck zurück. Nur noch ein paar Meter, dann ist er da. Nur noch ein paar Meter! Nur noch zur Ziermauer. Aber es ist niemand mehr da. Kein Steve, der Rekorder und die Bierkiste sind ebenfalls weg. Verdammt!
Danny ist enttäuscht. Sie haben nicht einmal die Telefonnummern ausgetauscht. Eine Weile steht er still da und überlegt. Immer wieder schaut er regelrecht sehnsüchtig zur Ziermauer. Kein Steve. Und auch kein Bier – Danny braucht jetzt unbedingt noch eines, um die heutige Begegnung zu verdauen. Oder am besten gleich etwas Hartes. Vielleicht hat ja das kleine Café in der Altstadt noch geöffnet? Mit den Mitbewohnern kehrt er dort regelmäßig ein. Der Cappuccino schmeckt dort sehr gut, überhaupt mag er das an den Kolonialstil angelehnte Ambiente. Ob sie Hochprozentiges ausschenken, weiß Danny allerdings nicht. Trotzdem ist es ihm einen Versuch wert, und er macht sich auf den Weg.
Danny läuft und läuft. Er läuft durch Gründerzeitblocks, Alleen, Parkanlagen und durch die Altstadt. Einen Block läuft er sogar doppelt, bevor er merkt, dass er – gedankenversunken – im Kreis gelaufen ist. Eine letzte verwinkelte Altstadtgasse, dann steht er an seinem Stammcafé am Domplatz. Und er hat Glück: Das Café hat noch geöffnet, selbst draußen sitzen noch Gäste und trotzen der frischen Nacht. Danny tritt ein und sieht sich um. Doch was ist das? An einem kleinen Tisch im hinteren Eck sitzt Ben und trinkt sein Bierchen. Der kühle Luftzug der geöffneten Tür lässt ihn aufschauen, und schon hat er Danny entdeckt. Mit wild fuchtelnden Armbewegungen winkt er Danny zu sich an den Tisch. „Was machst du denn hier?“, fragt Ben. „Bist du jetzt in die Mariafraktion übergelaufen?“, fragt Danny zurück, „Was soll ich denn hier tun? Mir die Kante geben natürlich.“ Er lässt sich vom hastigen Fußmarsch erschöpft an Bens Tisch niedersinken. „Du siehst ja gar nicht gut aus…“, stellt Ben fest, und Danny erwidert: „Ich brauch jemand zum Reden.“ – „Oh je“, wird Ben besorgt, „was ist denn los?“ Danny streift seine Harringtonjacke ab. Langsam ist er wieder bei Puste. „Ich glaube, ich bin verknallt.“ – „Na, das ist doch cool!“, gratuliert ihm Ben, „Wie heißt sie denn?“ Danny verstummt. „Danny?“ versucht Ben, Danny die Antwort aus der Nase zu ziehen. „Diesmal ist es anders.“, antwortet Danny schließlich. „Okay“, scherzt Ben, „dann halt: Wie heißt er?“ – „Steve.“, sagt Danny gepresst. Bens Gesicht wird allmählich ernster: „Äh, wirklich jetzt?“ Danny wird bleich. Die Gefühle übermannen ihn wieder. Alles ist so neu. In Gedanken hat er schon ein paarmal durchgesponnen, was wäre wenn. Aber noch nie war er bisher wirklich in einen realen Mann verschossen. Er nickt bedächtig. „Aber das ist doch absolut cool!“, versucht Ben ihn aufzumuntern. „Ich glaub, ich brauch jetzt nen Schnaps.“, sagt Danny. „Unsinn!“, widerspricht Ben, „Das ist doch kein Grund, sich zu besaufen.“ Dann wendet er sich zur Kellnerin: „Claudia, bringst du uns noch zwei Cappuccino?“ – „Zwei Cappuccini – kommen sofort!“, ruft sie zurück und betont das i, um Ben für seinen falschen italienischen Plural aufzuziehen. „Oder bring gleich drei“, fügt Ben hinzu, „wir haben was zu feiern!“
Kurz darauf bringt Kellnerin zwei Tassen Cappuccino (ja, so hätte sich Ben um den italienischen Plural drücken können) an den Tisch: „Hier, Ihr zwei Süßen.“ Dann wendet sie sich Ben zu: „Du weißt doch, dass ich nicht mittrinken kann. Muss doch arbeiten.“ Sie lacht leise, dann fragt sie lauter: „Was habt Ihr denn zu feiern?“ Auffordernd schaut Ben zu Danny. Genötigt starrt er in seine Tasse. „Hab mich in nen Kerl verknallt.“ – „Ach so!“, erwidert sie, „Na dann, willkommen im Club!“ Danny schaut zu ihr auf. „Ja ja“, fährt sie bekräftigend fort, „ich mach mir ja auch nicht viel aus Jungs.“ – „Höchstens Lampenschirme und Seife.“, wirft Ben ein und kichert albern. Aber Danny ist nicht zu lachen zu Mute. Auch die Kellnerin ignoriert den Gag: „Weiß der Glückliche denn davon?“ – „Nee“, antwortet Danny, „der ist bestimmt nicht mal schwul“. Schwul, wie das klingt. Gestern noch das Schimpfwort in Dannys Schulklasse und etwas, was er bestimmt nicht sein wollte. Jetzt hat er das böse Wort selbst ausgesprochen. Danny erschrickt vor sich selbst. Aber genau das trifft den Nagel auf den Kopf: Wenn nicht mindestens bi, dann schwul. Schlicht und ergreifend schwul. Wirklich angefreundet hat er sich mit dem Gedanken noch nicht. Aber immerhin schon mit der Tatsache, dass er sich mit diesem Gedanken anfreunden muss und auch wird. „Wenn ich dir weiterhelfen kann, komm ruhig rein“, sagt die Kellnerin, „jetzt warten die Gäste aber.“ „Tröste deinen Kumpel mal ein bisschen.“, wendet sie sich noch einmal Ben zu, bevor sie sich vom Tisch entfernt. Dann dreht sie sich noch einmal um: „Cappuccini gehen aufs Haus!“
„Die ist aber nett.“, merkt Danny an. „Claudia?“, begegnet Ben, „Klar.“ – „Und sie ist echt lesbisch?“, will Danny wissen. „So lesbisch, wie man lesbisch nur sein kann!“, lacht Ben, „Ich konnte bei ihr absolut nicht landen.“ Dann schlürfen sie erst mal aus ihren Tassen, und Ben ergänzt: „Aber eine coole Freundschaft hat sich wenigstens entwickelt.“ – „Wir sollten sie mal zu uns einladen.“, schlägt Danny vor. Auch Ben findet die Idee gut.
Sie reden und reden, es wird später, die Gäste lichten sich allmählich. Zum Feierabend sitzt auch Claudia mit am Tisch und hört sich Dannys Schwärmereien an. Sie freut sich sichtlich mit ihm. Schließlich steht sie nochmals auf und bringt eine Flasche Wein: „Los, die machen wir jetzt nieder!“ Danny fällt es schon leichter, darüber zu sprechen. Wirklich fassen kann er es noch nicht. Er fühlt sich, als hätte gerade ein neues Leben begonnen. Und ständig schwebt ein Gedankengang mit und macht ihm das Herz schwer: Wird er Steve jemals wiedersehen? Und wie wird es dann weitergehen? Sollte er es ihm beichten, und wie würde Steve dann reagieren? Und wie würde die WG es aufnehmen? Von Glas zu Glas verschwimmt dieser Gedankengang immer weiter und kreist diffus um seinen Kopf: Steve, Steve, Steve.