01 – Der Grund für die Ursache

Oder: Wie alles begann, Teil I.

Es ist eine erfrischende Sommernacht. Nur sporadisch verschleiern hauchdünne Wolkenschwaden den Blick zum sternenklaren Himmel. Bierflaschen klirren. Gelächter dringt vom wenige Meter entfernten Getummel herüber. Die frische Luft tut gut. Von drinnen schallt diffus eine altgediente DDR-Punkband heraus. Dann und wann kitzelt der Duft eines Grills die Nase. Und Freibier für Studenten. Danny hat sich gerade eine kurze Auszeit gegönnt und sich unweit der Mensa auf den Rasen gelegt. Seinen Armeerucksack aus Stoff hat er sich als Kissen unter den Kopf gestopft. Er liegt unter einem Baum und starrt in die Äste. Die fahle Beleuchtung der Laternen lässt das Astwerk gegen den dunklen Nachthimmel unwirklich erscheinen. Gedanken kreisen um seinen Kopf. Er kann es noch nicht richtig fassen, dass er tatsächlich zum Studium der Erziehungswissenschaften an der Universität Erfurt eingeschrieben ist. Er hat nicht den geringsten Schimmer, wie ein Studium überhaupt funktioniert; in der nächsten Woche soll es ein Einführungstutorium geben. Er ist der einzige seiner Abiturklasse hier, wird er neue Freunde finden und welche? Was erwartet ihn alles? Wird er das Studium durchziehen? Er schließt kurz die Augen und zieht sich das Basecap ins Gesicht. Der Campus dreht sich um seinen Kopf, mehr noch als seine Gedanken. Der Alkohol schenkt ihm ein Karussell.

„Bist du eingepennt?“, hört er eine Stimme sagen. Er zieht sich die Mütze nach unten weg und richtet sich etwas auf. „Alles klar bei dir?“, fragt die Stimme wieder. Neben ihm steht ein stämmiger Kerl, in der einen Hand eine halb aufgegessene Bratwurst, in der anderen ein Plastebecher Bier.

„Ja ja, schon…“, antwortet Danny leicht verwirrt und steht auf. Der Fremde klemmt sich seine Bratwurst zwischen die Zähne und reicht ihm eine Hand zur Hilfe.

„Ich hab dich vorhin schon beobachtet“, sagt der Fremde, „du scheinst ganz cool zu sein.“

„Klar bin ich cool“, sagt Danny, während er seinen Rucksack aufhebt, „aber woher willst du das denn wissen?“ Jetzt muss er schmunzeln.

Der Fremde zieht die Augenbrauen hoch und zeigt auf den über und über mit Bandnamen bemalten Rucksack: „Blöde Frage – Skeptiker, Normahl, Atemnot… Ich bin doch nicht blind.“ Er lacht und rubbelt Danny über den Kopf: „Und dein Iro ist auch nicht zu übersehen. Da musste ich dich einfach anquatschen!“

Etwas ertappt, zieht Danny sein Basecap wieder über: „Haste ja nun getan.“, sagt er. „Und wie nun weiter?“

„Bier fassen natürlich.“, reagiert der Fremde. Er muss lachen. Jetzt reicht er Danny noch einmal die Hand: „Ich bin übrigens Ben!“

Ehrlich gesagt, wirkt auch Ben auf den zweiten Blick nicht stinomäßig. Sein Bundeswehr-Parka aus den Achtzigern ist zwar frei von Buttons und Aufnähern, aber seine Dr. Martens sprechen für sich. Er ist im selben Alter wie Danny, vielleicht einen Ticken älter. „Auch Erziehungswissenschaften?“, fragt er.

Danny nickt. Aha, noch ein Erziehungswissenschaftler. Perfekt! Jemand, mit dem Danny künftig regelmäßig und diszipliniert jede Lehrveranstaltung besuchen kann. Während sie langsam wieder Richtung Mensa schlendern, erzählt er, welche Wendung in seinem Leben ihn zu dieser Studienfachwahl veranlasst hat. Eigentlich hatte er ganz andere Vorstellungen, aber im letzten Schuljahr hat er eine sympathische Clique außerhalb der Schule kennengelernt und mit ihr einen Sozialpädagogen. Seine Art hat Danny überzeugt und seine lang gehegten Berufswünsche über Bord werfen lassen.

Allmählich wird die Musik wieder lauter, es riecht nach frisch gezapftem Bier und Gebratenem. Danny hat noch den Rektor mit seiner feierlichen Ansprache im Gehörgang. „Genießen Sie Ihre Studienzeit, so schön werden Sie es im Leben nie wieder haben!“, hat er gesagt. Normalerweise wenig folgsam, hat sich Danny fest vorgenommen, den Worten des Rektors Folge zu leisten. Und schon steht er mit Ben am Getränkestand. Der feierliche Umtrunk der Erstsemester kann weitergehen.

Drin spielen die Skeptiker. Kostenlos. Unangekündigt. Der Studentenklub hier kümmert sich wirklich. Danny traut seinen Augen und Ohren kaum. „Haste vorhin nicht erkannt?“, fragt Ben, als sie eintreten.

Danny kitzeln zwei Hände am Rücken. Erschrocken dreht er sich um. Hinter ihm steht Maria, eine Mitbewohnerin aus Dannys WG. Sie versucht, etwas zu sagen, aber es ist zu laut. Danny beugt sich zu ihr nieder. „Hab ich dich gefunden!“, schreit sie noch einmal. Das ist Maria, sie muss immer wieder das Offensichtliche kommentieren. Als wenn man einen Bekannten im Supermarkt trifft und fragt: „Kaufst du hier ein?“ Maria ist eher klein geraten. Sie hat es nicht leicht, Kontakte zu knüpfen, und wenn sie welche hat, dann halten sie für gewöhnlich nicht lange. Sie ist sehr religiös und bindet das auch jedem früher oder später auf die Nase – ob derjenige will oder nicht. Und sie kann eine echte Spaßbremse sein. Aus wirklich jedem kleinen Gag macht sie gleich eine Diskussion, sie fühlt sich leicht persönlich angegriffen. Trotzdem ist sie eine Seele von Mensch. Wenn jemand Beistand sucht, ist sie da. Sie vergisst, sie vergibt, sie fragt nicht lange. Selbstverständlich studiert Maria Regionswissenschaften, was auch sonst. Und manchmal besucht sie auch gemeinsam mit Ben und Danny Vorlesungen, wenn sich die Themen überschneiden. Vielleicht sammelt sie aber auch didaktische Skills, um ihrer Umwelt Gott näher bringen zu können. Man weiß es nicht. Jetzt fällt ihr auch Ben auf, der mit Danny in die Mensa kam. „Maria.“, stellt sie sich ihm vor. Für weitere Worte ist es im Moment einfach zu laut.

„Hat eigentlich jemand schon unsere Chefin gesehen?“, platzt Danny dazwischen. Sie nickt, und Ben lässt seinen Blick kreisen. Dann streckt er seinen Arm aus und zeigt auf eine Frau schon etwas älteren Semesters. Nun versuchen sie noch einmal, ein paar Worte zu wechseln.

Vorn an der Bühne steht Saskia, einen Plastebecker Bier in der Hand. Na ja, älteres Semester ist nicht ganz korrekt; sie ist zwar bereits über dreißig, hat ihr Studium jedoch bereits hinter sich – auch sie hat Erziehungswissenschaften studiert. Saskia ist auch keine Chefin, sie führt als Hauptmieterin jedoch die WG. So wenig sie eine Chefin ist, so schlecht kommt sie allerdings auch mit Vorgesetzten klar. Selten behält sie einen Job länger als ein paar Monate. Sie bewegt sich ein wenig zur Musik, lässt aber ebenfalls ihren Blick hin und wieder durch die Menge schweifen. Sucht sie jemanden? Maria und Danny kennt sie schon seit der Einweihungsparty in der WG. Jetzt hat sie Danny entdeckt, ihre Blicke treffen sich. Saskia winkt mit dem hochgehaltenen Becher und bahnt sich den Weg zu Danny. Neben ihr gehen zwei Kommilitoninnen in Deckung. Offenbar haben sie einen Spritzer Bier abbekommen. Saskia hat gut getankt und nimmt keine Notiz davon. Sie kämpft sich durch die Menge, beim Anblick ihres unkontrollierten Bechers weicht man ehrfürchtig zur Seite.

„Da seid Ihr zwei Süßen ja!“, begrüßt sie Danny und Maria, dann streckt sie Ben ihre Hand entgegen: „Dich kenne ich ja noch gar nicht. Bin die Saskia.“ Dann wendet sie sich wieder Maria und Danny zu: „Kann ich euch mal draußen sprechen?“ Und während sie sich ins Freie wühlen, ruft sie zum zurück gebliebenen Ben zurück: „Kannst ruhig mit rauskommen, ich hab keine Geheimnisse.“ Sie lacht, und Ben kämpft sich durch das Gewühl hinterher.

Auch Saskia genießt die relativ kühle, frische Sommernachtsluft und atmet erst einmal tief durch. „Hab heute mal wieder die Kündigung gekriegt“, posaunt sie heraus, noch ehe jemand eine Frage stellen kann. Sie stellt sich nicht gern in den Mittelpunkt, aber das muss sie sich unbedingt vom Herzen reden.

Ben ist nun auch wieder da. Seine Augen wandern zwischen den ernsten Gesichtern umher. „Hab ich was verpasst?“, will er nach einer kurzen Schweigepause wissen.

„Saskia ist heute auf Arbeit rausgeflogen.“, klärt ihn Maria in ihren typisch leisen Worten auf.

„Was hat das große Mädchen denn schon wieder angestellt?“, fragt Danny.

„Schon wieder?“, wiederholt Ben, „Das klingt ja wie eine alte Tradition.“ Er weiß vom Hörensagen, dass Saskia ein Problem mit Autoritäten hat und muss schmunzeln.

Wieder wird es für einige Sekunden still. „Irgendwie schon“, gibt Saskia verunsichert kleinbei, „oder?“ Sie muss jetzt selbst grinsen. „Ich bin echt ein böses Mädchen.“ Sie lacht.

„Aber im Ernst mal“, fragt Maria besorgt, „was war denn los?“

„Ach, der Alte spinnt doch!“, entrüstet sich Saskia, „Erst soll ich Termine mit Klienten nicht eingehalten haben, dann ist Druckerpapier weggekommen. Und natürlich soll ich es gewesen sein. Als ob ich sowas machen würde. Der Arsch hatte mich von Anfang an auf dem Kieker!“ Saskia ist wirklich sauer. Sie steckt eigentlich eine Menge weg, aber ihr Unredlichkeit vorzuwerfen, da klettert sie ganz schnell mal auf die Palme. „Du studierst doch hoffentlich nicht Pädagogik!“, wendet sie sich Ben zu.

Ben nickt nachdenklich. Na, toll, das scheinen ja rosige Aussichten zu sein in diesem Beruf. Betreten wandern seine Augen zu Danny. Der hebt die Schultern und zieht die Augenbrauen nach oben, während er Bens Blick erwidert. Dazu schnaubt er die Luft bedächtig ein, als ob er sagen wollte: „Ja, willkommen im realen Leben.“

„Ganz schlechte gute Wahl“, fährt Saskia fort, „ich hab nirgends so viel Scheinheiligkeit erlebt. Alles nur Lug und Trug“, wettert sie, „da merkt man richtig, wie ersetzbar man ist. Was du alles schon geleistet hast, was du kannst – das zählt kein bisschen!“ Es wird schweigsam in der Runde.

„Was haste denn jetzt vor?“, fragt Maria leise.

„Ich bewerbe mich erst mal nicht mehr“, sagt Saskia zwischen zwei Schlucken aus ihrem Plastebecher, „wenn der Job krank macht, ist es definitiv Zeit für eine Pause.“ Sie atmet tief durch und beruhigt sich wieder etwas. Dann schlürft sie noch einen Schluck. „Habt Ihr mich halt jetzt etwas öfter aufm Hals.“ Sie kichert verhalten. Da wird sie von hinten gerempelt. Nachdem sie erschrocken ihren Becher stabilisiert, dreht sie sich nach hinten um. „Pass doch auf, wo du hinläufst, du Affe!“, pöbelt sie.

„Dickes Sorry, Saskia!“ begegnet ein eher kleingewachsener Typ mit Basecap. Er zupft ein Taschentuch aus der Tasche und reicht es ihr.

Doch Saskia hat nichts vom verschütteten Bier auf ihre Kleidung bekommen. „Ach, du bist es, Martin!“, lacht sie nun. „Sorry, wusste ja nicht, wer mich da so tollkühn angerempelt hat“, schiebt sie nach, „woll dich nicht anpöbeln.“ – „Ach, schon vergessen.“, entschärft Martin die Situation.

„Saskia ist heute etwas gereizt.“, wirft Danny ein.

„Wieder den Job geschmissen?“, lacht Martin. Er blickt in die eher ernsten Mienen in der Runde. Sein Lachen verflüchtigt sich. „Ach, nee“, sagt er, „nicht wirklich jetze, oder?“

„Doch, genau das.“, antwortet Saskia. Sie grinst. „Erzähl ich dir später.“

„Alles klar.“, sagt Martin etwas gehetzt. „Ich muss mir erstmal ein Getränk organisieren.“

„Habt Ihr in der FH nicht auch eine Party am Laufen?“, fragt Ben, „Was geht denn da so?“

„Ach“, winkt Martin ab, „total langweilig, kein bekanntes Gesicht, keine coole Mucke… Da bin ich lieber hierhergekommen.“ Er macht ein paar Schritte zum Cateringwagen, dreht sich aber dann noch einmal zurück: „Außerdem ist meine Lieblings-WG ja schließlich hier.“ Er lacht kurz und verschwindet dann zum Bierstand. Martin studiert Gartenbau an der Fachhochschule. Diplomgärtner, wie er immer sagt. Viele seiner Kommilitonen sind etwas hippiemäßig drauf. Damit hat er aber keine großen Probleme. Weil er aber in der WG von Saskia, Danny, Maria und Ben gelandet ist, hat er von Anfang an viel mehr Kontakt zu den Uni-Studenten gefunden. Vielleicht ist er auch heimlich deswegen heute hergekommen.

„Hast du eigentlich schon was von den Anderen gehört?“, fragt Danny Saskia. Er spielt darauf an, dass die gemietete Wohnung sehr groß ist – es handelt sich um eine Etagenwohnung in einem Gründerzeithaus im Erfurter Speckgürtel – und Saskia neulich erwähnt hat, dass sie noch weitere Mieter für die WG sucht, um die Kosten für alle möglichst überschaubar zu halten.

„Ja“, sagt Saskia, „ich habe für morgen Abend sechs Bewerber eingeladen.“ Und nach einer kurzer Pause schiebt sie hinterher: „Hätte sie auch morgens bestellen können, wenn ich gewusst hätte, dass ich keinen Job mehr haben würde…“

 

„Dieser Ben scheint ja echt in Ordnung zu sein.“, beginnt Saskia das Gespräch, als am nächsten Abend alle bisherigen WG-Bewohner zusammensitzen und den angekündigten WG-Bewerbern entgegenfiebern.

„Darf ich ihn behalten?“, fragt Danny und lacht.

Auch Saskia muss lachen. „Ihr zwei seid wie Pech und Schwefel“, sagt sie schließlich, „das hab ich doch gestern gleich gemerkt.“

„Da passt kein Mädchen dazwischen, hm?“, stichelt Maria. Als es leise wird, wird sie wieder still und ein bisschen rot um die Nase.

„Sind wir nicht genug Bewohner?“, fragt Danny. – „Find ich auch!“, pflichtet Martin ihm bei. „Wie sind doch schon ein saucooler Haufen hier.“

„Das hatten wir doch alles schon“, sagt Saskia etwas genervt, „Ihr wisst doch, je mehr Leute…“

„… desto niedriger die Kosten für alle“, ergänzt Maria.

Saskia fährt fort: „Wenn sich heute niemand findet, dann bin ich meinetwegen bereit, die…“

Die Türklingel unterbricht ihren Satz. Plötzlich herrscht Aufregung. Saskia geht zur Wohnungstür. Danny springt auf und holt schnell noch ein paar Gläser und eine Karaffe mit frischem Wasser aus der Küche. Als er mit dem Tablett ins große gemeinsame Wohnzimmer zurückkehrt, bietet Saskia dem ersten Bewerber einen Platz auf der Couch an.

„Also, ich bin Markus“, stellt er sich der Runde vor, und ich freue mich, dass Ihr mich eingeladen habt!“ – „Gern geschehen!“, sagt Saskia, während Danny ihm demonstrativ ein Glas und die Karaffe unter die Nase schiebt. „Dann erzähl doch mal was über dich!“, fordert ihn Saskia auf. Er schenkt sich das Glas voll und antwortet überrascht: „Auch, du bist hier quasi die Chefin?“ – „Die Hauptmieterin? – Ja“, begegnet sie ihm ernst, „ist doch kein Problem, oder?“ Markus hält eine Weile inne. „Ist das nicht Männersache?“, fragt er schließlich. Er blickt in die starren Augen und versucht sich zu rechtfertigen, doch er rutscht nur noch tiefer in sein Verderben. „Ich meine ja nur, wegen der vielen Zahlen und dem Überblick und so.“ Er blickt fragend in die Runde.

Stumm zieht Danny ihm das volle Wasserglas wieder unter der Nase weg. Er ist sich seiner Sache sicher. Maria starrt Danny an. Dannys Augen kleben bei Saskia, die nach einigen drückenden Sekunden schließlich das Gespräch abbricht: „Ich denke, wir können das hier abkürzen“, sagt sie und schaut in die Runde: „Oder was meint Ihr?“ Danny zeigt mit dem Daumen nach unten, während er aus der anderen Hand Markus Glas leertrinkt. Maria schüttelt den Kopf.

Endlich regt sich auch Martin. „Ich denke auch, dass es nicht passt.“, sagt er schließlich empört.

„Hast es ja gehört…“, unterstreicht Saskia den Gruppentenor. – „Na, dann…“, erwidert Markus und erhebt sich von der Couch. „Trotzdem schön, dass du Interesse hattest!“, versucht Saskia den vor den Kopf gestoßenen Markus etwas zu erden.

Doch der geht langsam wie paralysiert zur Tür. Stumm dreht er sich noch einmal zurück und hebt die Hand zum Abschied. Dann stapft er die Treppe hinunter, während Saskia die noch immer offene Wohnungstür hinter ihm leise ins Schloss drückt. Die Stimmung ist betreten, niemand sagt ein Wort. Doch Danny bricht das Schweigen schließlich mit seiner kühn-forschen Art: „Ist schon richtig so.“ – „Was, bitte, war das denn gerade?“, will Maria wissen. Markus trottet indes von der Haustür zur anderen Straßenseite, ohne noch einmal nach oben zusehen. „Hätten wir ihm vielleicht wenigstens eine Chance geben sollen?“, fragt sie, als sie vom Fenster zurückkommt und sich wieder ins Sofa sinken lässt. Er tut ihr ein bisschen leid. „Wenn du ein bisschen Mittelalter für die WG suchst, dann schon.“, wirft Martin ein. Danny nickt zustimmend. „Alles richtig gemacht.“, wiederholt er sich. Erst jetzt stellt er Markus leeres Glas auf den Tisch. Saskia schaut auf das Trinkglas und muss über Dannys arschig-rotzig-punkige Art schmunzeln. „Wenn die anderen fünf auch so drauf sind, müssen wir wohl erst mal alleine bleiben.“, sagt sie. „Nichts lieber als das…“, murmelt Martin.

Da klingelt es wieder. „Jetzt schon?“, schaut Saskia nervös auf die Uhr und öffnet abermals die Wohnungstür. „Hi, die Melanie!“, hört man eine etwas aufgeregte Stimme flöten, während die Bewerberin eintritt. „Such dir nen Platz in unserer Mitte!“, sagt Saskia und deutet auf die Sitzlandschaft. „Sorry, bin etwas früher.“, sagt sie, „Ich hoffe, das ist ok.“ Saskia nickt gespannt: „Erzähl mal was über dich!“

„Was soll ich erzählen?“, beginnt Melanie, „Ihr haltet mich bestimmt für langweilig… Ich bin Rechtsanwaltsfachangestellte, arbeite in so einer kleinen Kanzlei in der Innenstadt, muss immer früh raus, vor allem bei Gerichtsterminen.“ Sie schaut reihum in die neugierigen Gesichter: „Wird hier geraucht?“ – „Gibt Raucher hier, aber in unseren Gemeinschaftsräumen wird nicht geraucht.“, antwortet Saskia. „Also, ich bin da ja total empfindlich und merke das gleich.“, poltert Melanie heraus, „Und feiert Ihr viel?“ – Saskia sucht den Blickkontakt zu Danny, der gern mal später heimkommt und dann auch gut getankt hat. „Was schaust du mich da so an?“, lacht Danny ertappt, „Warum nicht?“ – „Wir sind ja fast die Bank durch Studenten“, sagt Saskia schließlich, „kommt also schon mal vor. Aber auch nicht ständig.“ – „Na, dass du viel feierst, konnte ich mir schon denken“, sagt sie zu Danny. Er starrt sie erst ernst an, ihre Anspielungen sind ihm unangenehmen, außerdem findet er, dass sie gerade Grenzen überschreitet. Dann versucht er, die Situation aufzulockern. „Kannst ja mit mir zusammen feiern“, sagt er, „dann stört es dich nicht mehr so.“ – „Da hätte sicher mein Verlobter was dagegen!“, zischt sie. „Ich rede von Bier trinken, quatschen, Döner essen, Mucke hören“, rechtfertigt er sich, „sonst nix!“. Wieder fühlt er sich persönlich angegriffen und ist genervt. „Das habe ich schon verstanden“, sagt Melanie, aber wenn er erfahren würde, dass ich mit ner Zecke rumhänge, wäre echt Polen offen.“ Danny bleibt der Mund offenstehen. Sein Puls rast. Zum Glück ergreift Saskia jetzt wieder das Wort: „Heißt das, dein Freund ist ein Fascho?“ Klar, immer geradeaus, nicht lang um den heißen Brei, das ist Saskia. „Verlobter! Pfff, bei euch ist immer gleich jeder ein Nazi, der deutsch denkt!“, zischt die in die Ecke gedrängte Melanie. „Definiere ‚deutsch denken‘“, fordert sie Martin auf. Entnervt starrt ihn Melanie an und verdreht demonstrativ die Augen: „Im Ernst jetze?“, fragt sie und nimmt ihm die Antwort gleich vorweg: „Ich muss mich doch vor euch nicht rechtfertigen!“ Mit diesen Worten springt sie auf und hastet mit großen Schritten zur Tür. „Jetzt bleib doch mal cool!“, ruft Saskia ihr hinterher. Melanie bleibt stehen und dreht sich um. „Bei welchem Anwalt arbeitest du gleich noch?“, fragt Saskia. – „Dr. Nicolas am Anger“, sagt sie etwas über die Frage verwirrt, „warum fragst du?“ – „Ach, nur so.“, sagt Saskia. Melanie kneift die Augen zu Schlitzen. Nach kurzem erwartungsvollen Warten dreht sie sich schließlich um und verlässt die Wohnung.

„Alter!“, sagt Danny, „Es hat nicht viel gefehlt, dann wäre ich der Alten an die Kehle gesprungen!“ – „Ich auch!“, lacht Martin, „Die ging ja mal gar nicht.“ Maria schüttelt stumm den Kopf. „Stellt euch mal vor, die würde hier wohnen und ihr Alter wäre dauernd hier zu Besuch…“, gibt die zu bedenken. – „Warum hast du sie eigentlich nach der Kanzlei gefragt?“, fragt Danny Saskia. – „Dreimal kannste raten!“, sagt sie wütend, „Jetzt, wenn ich arbeitslos bin und nix zu tun hab, schreibe ich dem Nicolas eine gepfefferte Mail.“ Dabei leuchten ihre Augen triumphierend auf. Danny ist noch immer aufgebracht, auch den Anderen ist es ganz flau in der Magengegend.

Es klopf leise. „Hat es gerade geklopft?“, fragt Maria. Auch Saskia hat es vernommen und läuft zur Tür. Auf dem Weg atmet sie noch einmal tief durch. „Funktioniert die Klingel nicht?“, fragt sie, während sie die Tür öffnet. Draußen steht ein etwas älterer, kräftiger Kerl, der schüchtern auf das Klingelschild schielt. „Ich komme wegen dem WG-Zimmer.“, sagt er, „Ist das noch frei?“ Saskia führt ihn ins Wohnzimmer und bietet ihm einen Sitzplatz auf der Couch an. „Wie war doch gleich dein Name?“, fragt sie, als er sich setzt und freundlich in die Runde nickt, „den habe ich gar nicht richtig verstanden.“ – „Sven“, poltert er unbeholfen heraus, „ich bin der Sven.“ Er ist sichtlich aufgeregt und redet mit gepresster Stimme und ohne tief auszuatmen. „Brauchst nicht aufgeregt zu sein“, beruhigt ihn Maria, „wir tun dir nichts.“ Sie lächelt auf ihre mütterliche Art. Danny schiebt ihm ein frisches Glas hin und die Wasserkaraffe. „Trink erstmal nen Schluck gegen den trockenen Hals“, sagt er schmunzelnd, „oder soll ich dir gleich ein Bier bringen?“ – „Wasser ist ok.“, antwortet Sven und gießt sich mit zittrigen Händen ein. Ein paar Spritzer gehen daneben. Martin steht auf und bringt einen Lappen aus der Küche. „Boar, sorry“, sagt Sven, während Martin die Tropfen von der Tischplatte wischt, „das tut mir echt leid.“

„Also, wenn du hier einziehen willst, dann musst du dir dringend abgewöhnen, dich ständig wegen jedem Scheiß zu entschuldigen!“, sagt Saskia provozierend, damit endlich ein Gespräch zustande kommt. „Jetzt erzähl mal was über dich!“

Sven nickt stumm. Ihre Art scheint ihn zu erden. Er schlürft einen kleinen Schluck Wasser ab. Dann stellt er das Glas auf dem Tisch ab und umgreift es mit beiden Händen, als wollte er sich daran festhalten. Er wirkt jetzt gefasster. „Also, ich bin Sven, wie gesagt“, beginnt er, „ich bin eigentlich ganz cool, wenn Ihr mich erst mal besser kennenlernt. Aber ich bin am Anfang immer ganz schön schüchtern und brauche meine Zeit um anzukommen.“ – „Alles gut.“, paraphrasiert Saskia. „Was machstn beruflich?“, fragt Danny. „Ich verkaufe Klamotten in so nem kleinen Indieladen in der Altstadt.“, gibt Sven Auskunft, „Kennt Ihr bestimmt.“ – „Also nicht in einer Anwaltskanzlei?“, fragt Danny. „Nee“, grinst Sven etwas verstört, „wieso?“ – „Ach, wir hatten vorhin eine Begegnung der dritten Art“, lacht Saskia, „wir hatten eine Nazitante als Bewerberin.“ – „Und die arbeitet in einer Kanzlei.“, ergänzt Martin. „Die habt Ihr aber nicht genommen, oder?“, fragt Sven. „Nö“, sagt Maria, „und die wollte uns auch nicht.“ – „Ich muss ehrlich sagen“, begegnet Sven, „wenn hier rechtes Gesocks wohnt, dann sagt es mir gleich!“ Er schaut in die Runde: „Dann gehe ich gleich wieder.“ – „Keine Sorge“, beruhigt ihn Saskia, „sowas kommt uns hier nicht rein!“ – „Das ist cool“, sagt Sven beruhigt, „das würde sonst Krieg geben.“ Er scheint nun warm geworden zu sein und lacht entspannt. Danny springt auf: „So, ich hol dir jetzt erst mal ein Bier! Und mir auch.“

„Ich glaube, ich würde mich bei euch gut aufgehoben fühlen.“, sagt Sven. „Ich habe meistens Probleme, bei den richtigen Leuten Anschluss zu finden, aber bei Euch habe ich ein echt gutes Gefühl.“

„Ich nehme das mal als Kompliment.“, sagt Martin. „Wie alt bist du eigentlich?“, fragt er. – „Hab die Dreißig schon hinter mir.“, antwortet Sven etwas verunsichert.

Danny stellt zwei Flaschen Bier auf den Tisch. „Darf ich fragen, warum du mit über Dreißig keine eigene Wohnung hast?“, will er wissen. „Schwer zu sagen.“, antwortet Sven zögernd. Auch Saskia ist gespannt auf die Antwort. „Alleine fühle ich mich nicht so wohl“, sagt er schließlich, „ich fühle mich wohler, wenn ich jemand um mich herum habe.“ – „Interessant“, wirft Maria ein, „du suchst also auch ein bisschen Anschluss?“ – „Schon.“, nickt Sven bedächtig.

Er hat bei allen Bewohnern offenbar ein Knöpfchen gedrückt. Nach einer halben Stunde und einem weiteren Bier fragt Saskia: „Jetzt mal eine wichtige Frage – wann könntest du bei uns einziehen?“ – „Am liebsten sofort!“, kommt seine Antwort wie aus der Pistole geschossen. „Also gut“, platzt Saskia schließlich heraus, „Sind drei Monate Probezeit ok?“ Sven nickt. Saskia schaut fragend in die Runde: „Was denkt Ihr?“ – „Eindeutig dafür!“, sagt Danny. „Auf jeden Fall!“, willigt auch Maria ein. Saskia schaut zu Martin. „Wo ist der Haken?“, fragt er Sven. Der hebt seine Hände: „Es gibt keinen.“ – „Für mich passt es auch super.“, sagt Martin schließlich. „Und was ist mit dir?“, fragt er Saskia. „Ich bin total überzeugt!“, sagt sie erleichtert, auch weil eines der Bewerbergespräche endlich erfolgreich war. „Cool!“, sagt Sven, „Ich darf also bei euch bleiben?“ – „Klar!“, sagt Saskia. Sie hat mehrere Mappen vorbereitet mit Infomaterial und Dokumenten und drückt Sven einen der Umschläge in die Hand. „In Ruhe durchlesen, unterschreiben und wieder herbringen.“, sagt sie. „Und wenn es Fragen gibt, dann immer her damit!“ – „Danke euch allen!“, sagt Sven und fällt Danny um den Hals. Dann verschwindet Sven aus der Wohnung.

„Das hat ja mal geklappt!“, freut sich Maria, und auch Saskia wirkt sehr erleichtert.

Plötzlich steht Sven wieder im Wohnzimmer. Neben ihm steht eine alternativ anmutende junge Frau, die offensichtlich etwas verwirrt ist. „Das Mädchen hat draußen vor der Tür gestanden“, sagt er, „hab sie mal reingebracht.“ Dann verlässt er die Wohnung wieder und zieht die Tür hinter sich ins Schloss.

„Ich bin Christine!“, sagt die Neue endlich, „Hab den Flyer bei uns im Laden gefunden. Ist das Zimmer noch frei?“

„Sorry, dass bei uns gerade das Chaos ausgebrochen ist.“, entschuldigt sich Saskia und bietet Christine einen Sitzplatz auf dem Sofa an. „Das war Sven, den haben wir gerade eben bei uns aufgenommen.“

„Dann ist das Zimmer schon vergeben?“, fragt Christine enttäuscht.

„Nee“, beruhigt sie Maria, „wir haben insgesamt drei Zimmer frei.“

„Ah, ok“, sagt Christine erleichtert, „und Ihr richtet jetzt also quasi über mich?“

„A propos richten und entscheiden.“, fällt Saskia plötzlich ein. Sie springt auf und eilt zur Wohnungstür. „Sven!“, schreit sie durch die geöffnete Tür. Ihr kurzer, schriller Ruf schallt im Treppenhaus noch ewig nach. Zwei Stockwerke weiter unten geht eine Wohnungstüre auf, das fahle Korridorlicht fällt ins Treppenhaus. „Ja?“, fragt Sven, der schon fast an der Haustür angekommen ist. „Wir brauchen dich noch mal!“, ruft Saskia.

Etwas außer Atem steht Sven einen kurzen Augenblick später wieder im Wohnzimmer.

„Du musst doch jetzt mit abstimmen, so als Mitbewohner.“, klärt ihn Saskia auf. Sie machen es sich also wieder auf der Sitzlandschaft gemütlich.

„Hatte mich schon gewundert“, sagt die Neue,“ also noch mal: Ich bin die Christine.“ Danny schiebt ihr ein Glas und die inzwischen frisch aufgefüllte Wasserkaraffe hin. Saskia grinst. Irgendwie wird das heute Abend zum Running Gag. „Na, dann erzähl mal was über dich.“

„Na ja, bei mir ist nicht alles reibungslos verlaufen“, beginnt sie, „ich hab erst eine Ausbildung im Tierbedarfshandel gemacht…“ – „Fressnapf?“, unterbricht sie Martin neugierhalber. – „Ja, Fressnapf“, fährt Christine fort, „aber irgendwie war das nix für mich. Hab dann abgebrochen und lerne jetzt Physiotherapeutin.“

„Praktisch!“, wirft Martin ein, „Ich bin immer so verspannt…“

„Einfach nicht hinhören!“, sagt Maria.

Und Saskia ergänzt: „Männer…“

Aber Christine muss lachen: „Das ist nicht das erste Mal, dass mich notgeile Typen für eine Erotikmasseurin halten.“ Sie schaut zu Martin: „Nix für ungut.“ Er hat das natürlich nicht so ganz ernst gemeint und muss ebenfalls lachen. Sven schmunzelt verhalten.

„Das heißt aber auch, dass ich in Schichten arbeite!“, sagt Christine.

„Das heißt, dass du früh rausmusst und deine Ruhe brauchst?“, fragt Danny.

Christine lacht. „Ja, auch“, sagt sie, „aber darauf wollte ich nicht hinaus. Eigentlich wollte ich damit sagen, dass ich regelmäßig auch mal ausschlafen und feiern kann, falls Ihr gemeinsame WG-Abende macht.“

„Machen wir oft!“, nickt ihr Martin zu.

Beim gemeinsamen Rundgang durch die Gemeinschaftsräume und einen kurzen Blick in die Zimmer greift Christine unwillkürlich nach den leeren Bierflaschen auf dem Wohnzimmertisch und bringt sie in die Küche. Saskia bleibt das nicht verborgen. „Musst jetzt aber nicht bei uns aufräumen.“, merkt sie an. Ein wenig spricht auch das schlechte Gewissen aus ihr, weil niemand daran gedacht hat, vor dem nächsten Bewerber den Tisch abzuräumen. „Hab da jetzt gar nicht drüber nachgedacht“, antwortet Christine, „wenn ich was rumstehen sehe, geht das ganz automatisch. Das kommt von der Arbeit in der Physiotherapie, da heißt es immer gleich ‚alles aufräumen‘, damit man einen aufgeräumten Arbeitsplatz hat und vernünftig arbeiten kann.“ Saskia ist sichtlich begeistert und nickt anerkennend. „Außerdem sind Körper und Geist auch viel freier in einer aufgeräumten Umgebung.“, schiebt Christine nach. „Jetzt komm uns aber nicht noch mit Sheng-Fui!“ Er lacht. „Meinst du vielleicht Feng-Shui?“, fragt sie ihn vorsichtig. „Kann auch sein.“, murmelt er.

Im Wohnzimmer angekommen, stimmen wieder alle Bewohner über die Neue ab. Auch Sven gibt stolz seine Stimme ab. Und wieder ist die Bewerberin unisono in die WG aufgenommen. Auch Christine ist sehr begeistert. Sie nimmt Saskias Unterlagen in Augenschein und sagt dann direkt zu.

„Wie haben heute Abend noch zwei Gespräche“, sagt Saskia, „magst du vielleicht dableiben und mit abstimmen?“ – „Klar doch!“, stimmt Christine stolz zu.

„Gleich halb neun“, schaut Saskia wieder auf die Uhr, „jetzt kommt doch diese Weimarerin, die an der FH studiert.“

So sitzen alle reihum am Wohnzimmertisch: Saskia, Maria, Danny, Martin, der neue Sven und die neue Christine. Es gibt Plätzchen, Maria hat außerdem noch Kaffee gemacht. Wird ja doch etwas später heute Abend. Und von Schüchternheit keine Spur – angeregte Gespräche und Gelächter lassen die Zeit verfliegen. Doch es klingelt nicht. Die Weimarerin scheint nicht zu kommen. Nach einer knappen halben Stunde schaut Saskia aufs Handy. Sie entdeckt eine neue Nachricht und liest sie vor: „Muss für heute absagen, liege mit Fieber im Bett. Sorry!“ Saskia antwortet kurz und schaut dann wieder auf die Uhr: „Jetzt ist es ja schon Zeit für den Letzten!“ – „Der letzte Bewerber heute?“, will Sven wissen. „Der letzte überhaupt“, ergänzt Martin und wendet sich Saskia zu, „ist es dieser Thomas, der so oft angerufen hat?“ Saskia wischt in ihren Nachrichten herum. „Ja, genau“, sagt sie schließlich, „Thomas war sein Name.“

20:57 Uhr, es klingelt an der Haustür. „Thomas ist da!“, stellt Saskia fest und bestätigt die Sprechanlage. Thomas kann aber nicht ins Haus, jemand hat die Haustür von innen abgeschlossen. Etwas genervt greift sie ihren Schlüssel und schlappt die Treppe hinunter.

Keine zwei Minuten später kommt sie mit Thomas ins Wohnzimmer und bietet ihm einen Platz an. Er nickt in Runde. Er wirkt noch nicht sehr reif und gefestigt. Aber er wirkt forsch und putzmunter – wenn auch seine Art gerade etwas aufgesetzt wirkt. Vielleicht versucht er aber auch nur, seine Aufregung zu überspielen. Besonders groß ist er nicht. An seinem Hals hängt ein Thorhammer. „Gehört Ihr alle zur WG?“, fragt er etwas naiv.

„Na klar“, sagt Danny. Er stellt die Runde vor. Auch die beiden Neuen. Den Thorhammer hat Danny natürlich sofort entdeckt, so etwas entgeht ihm nicht.

„Na, dann…“, beginnt Saskia etwas müde und erschöpft ihren heutigen Standardsatz, „erzähl mal was über dich!“

„Aaalsooo, ich bin Thomas. Ich bin zwanzig und habe Abitur.“, sagt er und schaut in die Runde. Es scheint, als würde er gern Anerkennung für sein Abitur erhaschen, doch die erhoffte Reaktion bleibt aus. Sei es, weil die anwesenden Akademiker einem Abitur keine besondere Beachtung mehr schenken, oder aber auch nur wegen der fortgeschrittenen Stunde und der Tatsache, dass die WG-Bewohner ob der zahlreichen Interviews heute Abend schlicht und ergreifend müde und erschöpft sind und nicht mehr auf jedes Detail eingehen wollen.

„Was bedeutet der Thorhammer?“, fragt Danny.

„War ja klar, dass das kommt.“, sagt Thomas und überspielt seine Genervtheit mit einem Lachen.

„Interessiert mich nur.“, sagt Danny.

„Mich auch.“, unterstreicht Maria die Tragweite von Dannys Frage. Der ist erst etwas überrascht über Marias Interesse, erklärt es sich dann aber mit ihrer Religiosität. Für Christen sind andere Religionen ja durchaus ein Dorn mi Auge, die nordische Mythologie als nicht monotheistische Religion besonders.

„Das ist nichts Politisches.“, stammelt Thomas etwas unsicher. Er sitzt jetzt auf der Anklagebank, alle schweigen und starren ihn auf seine Erklärung wartend an – jeder aus einem anderen Blickwinkel. „Ich mag halt das Mythische“, sagt er, „bin jetzt kein Rassist oder völkisch oder irgendsowas.“ Danny reicht das – fürs Erste.

„Hast du einen Beruf?“, will Saskia wissen. Doch weitgefehlt; außer seinem Abi kann Thomas nichts vorweisen. Er fühlt sich in die Ecke gedrängt. Seine anfängliche Nervosität ist jetzt Resignation und einer regelrechten Weinerlichkeit gewichen.

„Jetzt hackt doch mal nicht so auf dem Jungen rum!“, sagt Maria schließlich. „Was hast du denn mit deinem Abi vor?“, fragt sie Thomas.

„Ich würde gern Philosophie studieren.“, sagt Thomas, er ist nun wieder etwas gefasster, weil er sich ernstgenommen fühlt. Als ebenwürdiger Erwachsener fühlt er sich jedoch nicht.

„Was weißt du denn über Philosophie?“, fragt Marie. – „Was interessiert dich daran besonders?“, will Danny wissen. Und Martin wirft ein: „Würdest du dich einer bestimmten Strömung oder Schule zuordnen?“ Sie meinen ihre Fragen wirklich ernst, doch hier prallen Universen aufeinander. Für Thomas bedeutet Philosophie, pseudoklug daherzureden, an Verschwörungsideen zu glauben oder eben einer Naturreligion zu folgen. Im Ethikunterricht hat er wohl nicht sehr gut aufgepasst. Für ein Philosophiestudium hat er eigentlich nicht das Rüstzeug. Das wird ihm gerade bewusst. Die Leute hier kratzen mächtig an seinem Weltbild und auch an seinem Selbstbewusstsein.

„Ihr haltet mich für einen Spinner, oder?“, fragt er schließlich. Seine aufgesetzt lustig-lockere Art ist längst verflogen.

„Also, ich kann nur für mich sprechen“, sagt Danny, „ich halte doch für noch nicht sehr reif, aber das ist ok, du bist ja auch erst süße Zwanzig.“ Bei seinen letzten Worten muss er über sich selbst lachen.

Für Thomas ist Danny einfach der Inbegriff von ‚cool‘, er verkörpert augenscheinlich alles, was Thomas gern wäre, außerdem nimmt er ihn ernst und beschäftigt sich ernsthaft mit Thomas und seinen Sichtweisen; das ist Thomas nicht gewohnt. Er kann sich nicht erinnern, jemals so respektvoll und auf Augenhöhe behandelt worden zu sein. Aber – oder gerade deswegen – verletzt ihn Dannys Urteil sehr. Vor allem deshalb, weil Thomas weiß, dass Danny recht hat.

Es ist recht still in der Runde. Alles dreht sich um Thomas und die Wenigen, die ihn ins Kreuzverhör genommen haben.

„Du bist mutig“, sagt Saskia, „das muss man dir lassen. Warum willst du eigentlich in eine WG?“

„Ich sehe ein, dass ich keine Chance habe, bei Euch unterzukommen“, sagt Thomas, „ich bin nicht der, den Ihr für Eure WG sucht. Aber ich muss zu Hause raus. Meine Eltern machen mir das Leben zur Hölle. Ich träume davon zu studieren, habe aber gar keinen wirklichen Plan. Ich habe das Gefühl, dass mein Leben an mir vorbeizieht und ich nichts tun kann. Und meine Alten helfen mir nicht wirklich.“

„So ein Zimmer kostet ja auch Geld“, sagt Saskia, „und das ganze Leben drumherum auch. Woher willst du denn die Kohle nehmen?“

„Am Geld liegt es nicht“, sagt Thomas kleinlaut. „Meine Eltern würden alles bezahlen. Die sagen ja selber, dass ich raus soll – und endlich meinen eigenen Weg finden.“

„Du willst es wirklich versuchen, hm?“ sagt Danny.

„Nichts lieber als das!“, sagt Thomas laut.

„Gehst du bitte mal in die Küche und lässt uns kurz allein?“, bittet Saskia ihn.

Nachdem er die Küchentür hinter sich geschlossen hat, sagt Maria: „Der braucht ja eher nen Therapeuten als eine WG…“ – „Was stimmt denn mit seinen Eltern nicht?“, fragt sich Saskia. Und Danny meint: „Er scheint es aber echt ernst zu meinen…“ – „Von der Sache her soll es mir eigentlich rille sein“, sagt Saskia, „wenn die Kohle pünktlich kommt und wir nicht in Zahlungsprobleme geraten, meinetwegen. Aber der Typ braucht eine starke Hand – wenn er bei uns wohnt, müssen wir alle ein bisschen auf ihn achten.“ – „Ich habe aber keinen Bock, den Babysitter zu mimen.“, wirft Martin ein. „Mich habt Ihr doch auch in Eure Obhut genommen.“, stellt Sven fest. – „Obhut?“, wird Martin hellhörig, „Du bewohnst einfach ein Zimmer in unserer WG.“ – „Nee, das kannst du so nicht sagen“, widerspricht ihm Saskia, „bei uns achtet schon jeder auf den Anderen.“ – „Ja, irgendwie schon!“, gibt Martin kleinbei. „Darf ich auch mal was sagen?“, fragt Christine. „Ich bitte doch darum!“, sagt Saskia, und Christine fährt fort: „Ist doch nicht so, als wäre das ein 24-Stunden-Job. Er kommt ja grundsätzlich klar. Wir sollten nur ein Auge darauf haben, dass er nicht die falschen Leute nachläuft, etwas bodenständiger wird und sich mal ernsthafte Gedanken um seine berufliche Zukunft macht. Kriegen wir das nicht hin? Sind hier nicht auch superschlaue Sozialpädagogen unter Euch?“

Der Bierkasten lacht Thomas an. Dem Gespräch draußen im Wohnzimmer kann er akustisch nicht folgen. Sie werden ihn wohl ablehnen. Die sind alle schon so viel weiter. Und auch so cool, die feiern ständig, bekommen ihr Leben trotzdem mühelos auf die Kette. Und sie sind um Welten cooler als seine Eltern, die irgendwo auf halber Strecke den Faden verloren haben und resigniert haben. Die sich der gesamten Vielfalt seiner Talente nicht bewusst sind – und sie ihm auch nicht vor Augen führen konnten. Was also anfangen mit diesem verkorksten Leben, wenn die bisher Einzigen, die ihn überhaupt als Mensch und Persönlichkeit ernstgenommen haben, ihn ebenfalls ablehnen und verstoßen würden…

Eigentlich möchte er sich nur die Kante geben oder am liebsten richtig abschießen. Oder wenigstens ein Bier aus dem Kasten nehmen, um sich ein bisschen akzeptiert und erwachsen zu fühlen… Wenigstens ein Trostpreis! Was soll’s jetzt bückt er sich und zieht eine Flasche heraus. Natürlich fragt er die Bewohner aber erst, ob er es trinken darf. Anstand und Respekt waren ihm immer enorm wichtig. Er öffnet die Tür und hält die Flasche vor sich in die Höhe. „Darf ich mir ein Bier nehmen?“, fragt er. Er jetzt fällt ihm auf, dass niemand mehr ein Wort sagt.

„Alter!“, lacht Danny laut los. „Wie als bist du? Junge, trink dein Bier und frag nicht so doof!“

Thomas tritt eingeschüchtert mit seiner Flasche vorsichtig zum Wohnzimmertisch, wo ein Flaschenöffner liegt.

„Ich wollte dich gerade rufen“, sagt Saskia, als Thomas die Flasche entkorkt, „setz dich mal hin.“

„Ich wollte dich nicht einschüchtern“, mischt sich Danny ein, „ich wollte nur sagen, dass du in deinem Alter reif genug sein solltest, einfach mal ein Bier zu trinken.“

„Verstehe ich ja“, antwortet Thomas, „aber als Gast kann ich hier doch nicht einfach…“

„Darüber will ich gerade mit dir reden!“, unterbricht ihn Saskia. Willst du noch bei uns einziehen, und meinst du es absolut ernst? Bist du dir darüber im Klaren, dass du dann auch Verantwortung übernehmen musst?“

Thomas sitzt vor seiner geöffneten Flasche, getrunken hat er noch nicht. Er fühlt sich erschlagen. „Klar will ich unbedingt zu Euch.“, quält er sich schließlich heraus.

„Willkommen in unserer WG!“, sagt Saskia.

„Echt jetze?!“, fragt Thomas ungläubig. Er ist zu oft verarscht worden.

„Natürlich!“, wiederholt sie sich, „Komm, ich zeig dir dein Zimmer.“

Während er aufsteht, sagt Danny ungehalten: „Würdest du jetzt endlich einen Schluck aus deiner Flasche nehmen? Sonst nehme ich sie dir ratzfatz weg!“

Thomas stößt mit Danny an, dann trinken sie. Anschließend verschwindet Thomas mit Saskia, die ihn durch die WG führt und ihm schließlich sein Zimmer übergibt. „Du darfst dir nicht alles so zu Herzen nehmen, was Danny sagt“, vertraut ihm Saskia an, der ist schon ein guter Kerl – aber manchmal hat er das Einfühlungsvermögen einer Abrissbirne.“ Sie lachen. Aber genau das schätzt Thomas. „Mir ist es lieber so als hintenrum“, sagt er, „Ich mag seine Art.“

Wieder im Wohnzimmer angekommen, schaut Saskia wieder auf die Uhr.

„Hast du den Kleinen ins Bett gebracht?“, fragt Danny Saskia.

„Parole Maulhalten!“, sagt Thomas mutig.

„Genau!“, sagt Saskia.

„Weißt doch, wie ich es meine.“, sagt Danny.

„Na klar“, sagt Thomas, „ändere das bitte nie!“

„Geht klar“, sagt Danny, habe ich auch nicht vor.“ Sie lachen.

„Was haltet Ihr davon, wenn wir für heute Schluss machen?“, fragt Saskia, und sie ergänzt: „Ist Euch eigentlich klar, dass wir unsere WG jetzt endlich fertig haben?“

„Eine schwere Geburt war das!“, sagt Martin. „Und ja, ich bin auch völlig fertig.“

„Im Grunde genommen, war der Grund für die Ursache der Anlass für den Auslöser.“, sagt Danny.

„Hä?!“, fragt Saskia.

„Was?!“, erwidert Danny.

„Wird Zeit fürs Bett, hm?“, lacht Martin über Dannys Geistesakrobatik, während sich das Wohnzimmer allmählich lichtet: „Gute Nacht!“ – „Gute Nacht!“

Sven, Thomas und Christine brechen auf. Bald schon werden sie ebenfalls hier wohnen. „Gibt’s also demnächst eine Einweihungsparty?“, vergewissert sich Sven.

„Aber sowas von!“, sagt Danny von seinem Sessel aus, „Aber sowas von!“

 

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